Luftiger Raum, weiter Blick, offene Flächen, kaum Stellwände – und hier soll im Hardware MedienKunstVerein (HMKV) die Gesellschaft zur Wertschätzung des Brutalismus (The Brutalism Appreciation Society) residieren? Was ist die überhaupt und wieso stehen da so Mini-Plattenbauten im Weg? Die Rätsel sind in Dortmund schnell entschlüsselt. In den dunklen 1950er Jahren entstand der so genannte „Brutalismus“ in Großbritannien. Architektur aus Sichtbetonwänden, die Baustoffe lagen frei. Man baute riesige Klötze für das Heer der Arbeiter, Fritz Langs Metropolis schien nichts dagegen. Auch in Deutschland setzte sich in den folgenden Jahrzehnten so etwas wie Brutalismus im Häuserbau durch, vom pseudomodernen Häuserkampf der Architektur war da noch nichts zu spüren. In NRW war beispielsweise die experimentelle „Neue Stadt Wulfen“ noch nicht einmal gedacht.
HMKV-Chefin Inke Arns kuratierte die Ausstellung „Gesellschaft zur Wertschätzung des Brutalismus“. Zu sehen sind in der dritten Etage des U 21 künstlerische Positionen, die sich nicht nur mit einem Betonbau-Retro, sondern auch mit den Ursachen einer Errichtung auseinandersetzen und die so heute eine neue Wertschätzung dieser ungeliebten Architektur propagieren. Der Schlüssel war sicherlich auch die namensgebenden Facebook-Gruppe, die sich bereits 2007 gegründet hat – in einer Zeit also, als Kommunen europaweit diese Bauten sprengten und so zum langsamen Zerbröseln des Brutalismus beitrugen. Diese anfangs kleine Gruppe hat heute über 25.000 Mitglieder. Ob tatsächlich der immer noch vorhandene ästhetische Reiz brutalistischer Bauten oder einfach nur das Dabeisein beim Soziale Medien-Hype Ursache für diese Masse sind, wird sich nicht klären lassen. Die Fokussierung auf architekturtheoretische Phänomene und ihre Ästhetik könnte darunter leiden.
Das erste was der Besucher im Dortmunder Kulturturm wahrnimmt, sind die bereits erwähnten Minibauten vom Berliner Street-Artisten Evol, er hat auf Porenbeton die Illusion kleiner Platten gesprüht. Wie Gulliver oder noch besser wie Godzilla kann man durch die fünf Wohnblöcke auf Paletten wandern. Etwas weiter sieht man schon die Skulpturen von Philip Topolovacs, der aus Kunststoff die Luftschächte der Prager U-Bahnschächten modellierte, an der Wand hängen C-Prints der Originale. Alle Bauten haben eine strenge stille Schönheit, eine Art Diversität der Gebrauchsbauten. Das Ende dieser speziellenÄsthetikversucht die Französin Anne-Valérie Gasc mit Kameras in orangenen Lkw-Zwillingsreifen festzuhalten. Die dokumentieren dann die Sprengungen der brutalistischen Bauten. Ganz anders geht der Österreicher Kay Walkowiak mit Beschädigungen um. In seinem Video „Minimal Vandalism“ (HD, 2013) lässt er den spanischen Profi-Skater Kilian Martin durch einen musealen Raum rollen und minimalistische Skulpturen ankratzen. Eine irre Artistik-Choreografie im Beton-Universum. Dessen Historie thematisiert Nicolas Moulin mit viel technischem Aufwand und drei Tageslichtprojektoren und der Erinnerung an Herman Sörgels „Atlantropa“-Staudammprojekt von 1928. Die HMKV-Ausstellung läuft völlig korrekt parallel zur Documenta in Kassel.
„Gesellschaft zur Wertschätzung des Brutalismus“ | bis 24.9. | HMKV, Dortmunder U | 0231 496 64 20
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Hinter Samtvorhängen
Silke Schönfeld im Dortmunder U – Ruhrkunst 11/24
Aus dem Leben
Silke Schönfeld im Dortmunder HMKV
Utopie und Verwüstung
„The Paradise Machine“ in Dortmund – Ruhrkunst 04/24
„KI erlaubt uns einen Einblick in ein kollektives Unbewusstes“
Kuratorin Inke Arns über Niklas Goldbachs „The Paradise Machine“ im Dortmunder HMKV – Sammlung 03/24
Was uns die Algen singen
Stolzer & Rütten im Dortmunder U – Ruhrkunst 05/23
„Bakterien passen sich schneller an neue Umgebungssitationen an“
Kuratorin Inke Arns über die neue Ausstellung des HMKV im Dortmunder U – Sammlung 03/23
Keine Angst vor dem Mähroboter
„House of Mirrors“ im HMKV im Dortmunder U – Kunstwandel 05/22
Transformation der Moderne
„Technoschamanismus“ im Dortmunder U – Kunstwandel 12/21
Multimedialer Remix der Postmoderne
Tom McCarthys Ode an „The Pow(d)er of I Am Klick Klick Klick Klick and a very very bad bad musical“ im HMKV Dortmund – Kunst 07/21
Manchmal mussten die IMs selber ran
„Artists & Agents“ im Dortmunder HMKV – Kunstwandel 02/20
HAL 9000 ist eigentlich weiblich
Wilde „Computer Grrrls“ im Dortmunder HMKV – Kunstwandel 02/19
„Die Digitalisierung verstärkt die Vorurteile“
Inke Arns über ihre Ausstellung „Computer Grrrls“ im HMKV – Sammlung 11/18
Aus zwei Sammlungen
Das frühe 20. Jahrhundert im Kunstmuseum Mülheim – kunst & gut 11/24
Keine falsche Lesart
Ree Morton und Natalie Häusler im Kunstmuseum Bochum – Ruhrkunst 11/24
„Mangas sind bei der jungen Leserschaft die Zukunft“
Leiter Alain Bieber über „Superheroes“ im NRW-Forum Düsseldorf – Sammlung 11/24
Der Künstler als Vermittler
Frank van Hemert in der Otmar Alt Stiftung in Hamm-Norddinker – kunst & gut 10/24
Gelb mit schwarzem Humor
„Simpsons“-Jubiläumschau in Dortmund – Ruhrkunst 10/24
„Weibliche und globale Perspektiven einbeziehen“
Direktorin Regina Selter über „Tell these people who I am“ im Dortmunder Museum Ostwall – Sammlung 10/24
Die Drei aus Bochum
CityArtists in der Wasserburg Kemnade – Ruhrkunst 09/24
„Jeder Besuch ist maßgeschneidert“
Britta Peters von Urbane Künste Ruhr über die Grand Snail Tour durch das Ruhrgebiet – Sammlung 09/24
Orte mit Bedeutung
Zur Ruhrtriennale: Berlinde De Bruyckere in Bochum – kunst & gut 09/24
Denkinseln im Salzlager
Osteuropäische Utopien in Essen – Ruhrkunst 08/24
Ausgezeichnet auf Papier
Günter Drebusch-Preis 2023 in Witten – Ruhrkunst 08/24
Räume und Zeiten
Eindrucksvoll: Theresa Weber im Kunstmuseum Bochum – kunst & gut 08/24