trailer: Herr Bultmann, ist die Musik, die Sie anbieten, nur etwas für ältere Leute?
Johannes Bultmann: Ich glaube nicht. Unser Programm deckt ein breites Spektrum ab. Wir bieten Klassik, Jazz, Neue Musik, Operette bis hin zum Hip Hop und sprechen so alle Altersschichten und auch alle Gesellschaftsschichten an. Natürlich haben junge Menschen eher weniger Zugang zur Klassischen Musik. Es liegt an uns, Ideen zu entwickeln, wie man versucht, junge Menschen mit Klassik in Berührung zu bringen. Da sind wir aber sehr kreativ, neue Wege zu gehen.
Hip Hop goes Beethoven?
In der neuen Spielzeit haben wir zwei Clubangebote. Bei einem arbeiten wir mit dem Sender WDR EINSLIVE zusammen. Es trifft im Juni 2012 das WDR-Sinfonieorchester mit DJ Larse zusammen. Und bereits im Februar treffen die Hip Hopper Miki & Curse auf die Bergischen Symphoniker. Hemmschwellen werden so abgebaut. Wir wollen mit unserem Programm nicht ausgrenzen, sondern integrieren.
Aber auch innerhalb der Klassik widmen Sie sich der Neuen Musik?
Über Jahrhunderte herrschte bei der E-Musik ein Eurozentrismus. Die meisten Komponisten kamen aus Mitteleuropa. Der deutschsprachige Raum war immer ein Zentrum der Klassischen Musik. In den USA wurde lange Zeit keine eigene Musiksprache im Bereich der E-Musik entwickelt. Erst ab 1950 bildete sie sich dort mit John Cage, der einen starken Einfluss auch auf Europa hatte. Später kam die Minimal Music von Reich und Adams, und nicht zu vergessen ist Frank Zappa, der Grenzgänger war und Grenzen überschritten hat. Diese vier Komponisten stellen wir in den Mittelpunkt unseres Festivals „NOW! AMERICA“. Wir wollen damit thematisieren, dass ab der Mitte des letzten Jahrhunderts der Europazentrismus in der E-Musik überwunden wird und der alte Kontinent das erste Mal Einflüsse von außen erhält. Die Neue Musik, wie sie sich nach dem Krieg in Europa entwickelt hat, war eine sehr rationale, kopflastige Musik. Freie Kompositionsprozesse spielten keine Rolle.
Wir drohten zu verstauben?
Europa litt hier tatsächlich unter seiner Tradition, denn diese kann auch eine Last werden. John Cage interessierte sich nicht, was zuvor in Europa geschah. Es sagte: „Ich bestimme nichts mehr. Alles ist Zufall.“ Ob an dem Abend tatsächlich das Stück von ihm gespielt wird, das angekündigt war, ob ein Pianist spielt oder drei, ob ein halbes oder ein ganzes Orchester spielte, ob die Noten auf den Kopf gestellt werden, Cage war offen für viele Experimente. Cage zog auf Sternenkarten fünf Linien, und dort, wo ein Stern auf die Notenlinien traf, schrieb er eine Note auf. Hinter dieser Aleatorik, die das krasse Gegenteil dessen war, was in jener Zeit in Europa entstand, stecken, obwohl man zunächst Profanes vermutet, hohe philosophische Gedanken. Es geht um die Freiheit des Individuums.
Sie erwähnen auch Frank Zappa. Ist Zappa nicht zu ordinär für so ein Hohes Haus wie den Alfried Krupp Saal? Ich möchte manche seiner Texte an dieser Stelle nicht auf Deutsch zitieren …
Zappa war zu seiner Zeit sicher ein Provokateur. Heute aber kann man nicht mehr provozieren, weil bereits mehr oder weniger alles gemacht wurde. Die großen internationalen Ensembles, die sich an zeitgenössischer Musik ausrichten, führen Zappa völlig selbstverständlich auf. Sein Werk ist zum Teil noch gar nicht freigelegt. Ich meine nicht die Rock-Stücke, sondern seine „klassischen“ Kompositionen, die teilweise noch für Orchester umgeschrieben werden müssen.
Sind Sie froh, kein eigenes Orchester zu haben?
Ein eigenes Orchester zu haben, hat Vor-, aber auch Nachteile. Ich kann mir für alle Ideen, die mir im Kopf umherschwirren, weltweit die entsprechenden Spezialensembles und Dirigenten zusammensuchen und engagieren. Wenn ich ein Orchester habe, ist die Palette nicht ganz so bunt.
Wie sieht es mit der Koordination mit und unter den Nachbarstädten aus? Gibt es bereits die Metropole Ruhr?
Das Ruhrgebiet muss sich in Zukunft als Einheit begreifen. Daran führt kein Weg vorbei, obwohl dies sicher ein langer und schwerer Prozess sein wird, dorthin zu kommen. In der Region haben wir eine weltweit wohl einmalige Dichte an Konzerthäusern: von der Tonhalle in Düsseldorf über die neue Mercatorhalle in Duisburg, die Philharmonie in Essen, das zukünftige Konzerthaus in Bochum und im Osten das Konzerthaus Dortmund. Entscheidend ist, diese Häuser so zu positionieren, dass das eine mit dem anderen leben kann. Es gibt unterschiedliche Konzepte. Während die Mercatorhalle und das Konzerthaus in Bochum Heimat des jeweils eigenen Orchesters sein sollen, sind die Tonhalle, das Konzerthaus Dortmund und auch wir in Essen eher Häuser, die primär eine internationale Konzertplanung betreiben. Insgesamt sind wir im Ruhrgebiet gut aufgestellt.
Wenn dies Finanzminister und Kämmerer hören, wollen sie bestimmt Ihre Etats kürzen.
Solange es Menschen gibt, die in Internetforen, in Leserbriefen und an Stammtischen fordern, die Kulturetats zu kürzen, ist das für mich ein Indiz dafür, noch nicht genug Kultur anzubieten. Denn auch diese Menschen müssen wir erreichen. Zivilisierte Gesellschaften konnten sich nur entwickeln, weil sie ihre Kultur förderten. Ohne Kultur gibt es keine Zukunft!
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