Der Boom hält an: Mit 121 zahlenden Gästen bis auf den letzten Platz gefüllt ist das Oberhausener Kulturzentrum Druckluft, als am Abend des 8. Dezember einmal mehr Poetry Slam auf dem Programm steht. Moderiert vom aktuellen NRW-Meister Jason Bartsch aus Bochum, ist das Feld der fünf Teilnehmenden von Johannes Floehr (Krefeld) über Jan Möbus (Remscheid) bis Dean Ruddock (Paderborn) geographisch weit gespannt, während das Ruhrgebiet durch Christofer mit F (Herne) sowie die einzige Frau im Feld, Felicitas Friedrich (Bochum) vertreten ist.
„Es liegen 1000 Leichen in der Stadt der Reichen“, schallt vor der Anmoderation ein Song der Hamburger Band Die Sterne aus den Bühnenboxen. Viel krasser wird es textlich an diesem Abend nicht mehr; höchstens als Kalauer verpackt – etwa wenn Moderator Jason Bartsch zu Beginn plakativ witzelt: „Was ist laut und stirbt beim ersten Date? Ein Atomkrieg!“ Zudem dämpft er zur Beruhigung mancher auch gleich die literarischen Erwartungen: „Wir werden heute Abend nichts aus Goethes Faust hören – aber zum Glück auch nichts aus '50 Shades of Grey'.“
Dies entspräche auch nicht wirklich dem Selbstverständnis der Slam-Poeten: „Wir sind keine Künstlergruppe im Sinne der „Gruppe 47“, aber dennoch auf andere Weise Dreh- und Angelpunkt einer großen literarischen Bewegung der Gegenwart im Ruhrpott“, so der Bochumer Autor Sebastian Rabsahl, der 2008 die deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaften gewann und 2010 für seine kabarettistischen Leistungen mit dem Prix Pantheon ausgezeichnet wurde, im Gespräch mit trailer-ruhr. Zusammen mit dem Herner Chris Wawrzyniak initiierte er im September 2012 das regionale Netzwerk WortLautRuhr – eine „Agentur, die sich auf Slam- und Lesebühnenveranstaltungen spezialisiert hat und darüber hinaus Workshops und Fortbildungen anbietet“, erläutert Rabsahl, der als Sebastian 23 deutlich bekannter ist.
Ein politisches Ausrufezeichen setzt der Gewinner des Abends, Johannes Floehr, der seit 2010 hauptsächlich auf Slam-Bühnen in NRW unterwegs ist und 2014 den Jugendliteraturpreis des Heinrich-Heine-Instituts gewann. Mit einem satirischen Mitgliedsantrag an die NPD will er nicht nur Kurt Tucholsky und dessen These verifizieren, dass es ein Vorteil der Klugheit sei, sich dummstellen zu können; vielmehr soll sein Beitrag der rechtsextremen Partei zum Vorbild gereichen, indem der Text abrupt endet… Per Applausentscheid ins Finale gebracht hat den 34-Jährigen zuvor eine kuriose Geschichte über eine ebenso plötzlich endende nymphoman dominierte Partnerschaft.
Zur zweiten Siegerin des Druckluft-Slams wird Felicitas Friedrich per Applausentscheid gekürt, die auch bei der an der Ruhr-Universität beheimateten Gruppe Treibgut – junge Literatur in Bochum aktiv ist. In ihren slam-rhythmisierten Texten stellt die 23-jährige Literaturwissenschaftsstudentin im Vorrundentext „Stoff für mehr“ zum einen die Gefühlswelt der Protagonistin in den Fokus, die „statt Bücher zu wälzen mit der Nacht verschmelzen“ will und doch keine Erfüllung findet. Zudem setzt sie sich im Finalbeitrag „Vergiss die Herzen nicht“ mit der Gefahr eines Empathieverlusts in der Ellenbogengesellschaft auseinander: „Zum Durchbeißen brauchst du Stahlzähne“: „Ohrenstöpsel und Smartphones sind die Scheuklappen unserer Gesellschaft.“
Mit dem schweren Schicksal eines Latein-Lehrers setzt sich der Drittplatzierte Christofer mit F auseinander. Sein Schüler-Bashing, über das er sich selbst halbtot lacht, hat ihn in die Endrunde gebracht, obwohl mit jenen „Vollpfosten und Spacken“, die er wild gestikulierend in Peter-Handke-Manier beschimpft, auch das Publikum gemeint sein könnte: „Eure Mütter haben doch alle Crack geraucht!“ Obwohl er im Finale mit einem von lateinischen Wendungen durchsetzten Gangster-Rap („Latein ist eine radikale zerebrale Disziplin“) zur Höchstform aufläuft und sein Alter-Ego als „Zeus der Poesie“ intellektuell und rhetorisch versiert Brücken zwischen Jugendkultur und Antike zu schlagen sucht („die geilsten Tracks baut Marcus Valerius Marcial“), reicht es für den 32-Jährigen am Ende nur zu Bronze. „Pax – und danke fürs Zuhören“, verabschiedet er sich.
„Zerebraler Schmand“, brüllt irgendwann ein Zwischenrufer, um ein wenig Druckluft abzulassen. Moderator Jason Bartsch bleibt gelassen: „Die Welt implodiert“, gibt er ironisch zurück.
Nicht zum Finaleinzug gereicht hat es für den Rapper und Bühnenpoeten Jan Möbus, dessen Protagonist sich im Text „Eine unbequeme Wahrheit“ einen Zusammenbruch aller Klischees und Scheinwahrheiten ausmalt: „Unter einer alles zerstörenden Tsunami-Welle der Emotionen würde die Welt ins Chaos stürzen“, wenn am Ende die eigenen Erzeuger gestehen: „Wir lieben dich nicht – aber wir sind deine Eltern.“ Am Ende wirft der von dieser Welt enttäuschte Protagonist den defekten Entsafter aus dem Fenster und legt mit dem nachfolgenden Schrei „Lügenpresse“ so manche Stirn im Publikum in Falten.
Auch der Wort- und Videoslammer Dean Ruddock schafft es trotz anspruchs- wie kunstvollen Vortrags über die Evolution in Zeitraffer und das Erwachsenwerden in einer Welt, in der es an Magie fehlt, nicht unter die letzten Drei: Schwebend in dem „Teich, den sie Leben nennen“, wachsen dem Menschen schließlich Ikarus-Flügel aus „Sinn(losigkeit)“. Vielleicht eine Spur zu „deep“ für einen regnerischen Dienstagabend in Oberhausen, wo neben literarischer Druckluft auch die eine oder andere poetische Perle zu finden war.
Poetry Slams im Ruhrgebiet: www.wortlautruhr.de
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