Die Meldung über den Kompromiss zwischen Demokraten und Republikanern zur Erhöhung der Schuldenobergrenze war am Montagabend keine 24 Stunden alt, als das Konzert von Jello Biafra und der Guantanamo School of Medicine losging. Was für die Aktienmärkte und die Weltwirtschaft Grund zum Aufatmen war, schien bei dem ehemaligen Sänger und Gründer der Dead-Kennedys noch mehr wütende Energie frei zusetzten, um über das Kartenhaus Amerika, das auf noch mehr Schulden weiterbaut, zu lehren, zu singen und zu schimpfen.
Politisch wie musikalisch waren die letzten beiden Jahre aber ziemlich erfolgreich für Biafra. Das Album mit der Guantanamo School of Medicine, „The Audacity of Hype“, kam bei der Punkgemeinschaft gut an, der Neoliberalismus hat mit der Finanzkrise sein potentielles Unheil wahr gemacht und dieses „Sträflingscamp“ auf einer Insel, von dem Barack Obama nicht so gerne spricht, steht immer noch, womit sich Biafra im Recht sieht, der seit Jahren predigt, dass die Demokraten keine Opposition zur republikanischen Partei seien.
Dieser Umweg wäre für einen Konzertbericht komplett unnötig – wenn es sich nicht um den umtriebigen Sänger und Labelboss aus Kalifornien handeln würde. Biafra ist ein punkiges Hybridwesen, der den politischen Aufklärer ebenso wie den Populisten, den engagierten Bürger wie den irren Punkrocker gibt. Den kritischen Zeigefinger nimmt er bei diesen Gradwanderungen aber nie runter. Und so bringt man schon früh mit Liedern wie „Panicland“ den amerikanischen Patienten auf den Seziertisch vor dem Dortmunder Publikum im FZW. Die verbarrikadierte und selbst bewaffnete Vorstadt als letzter Hort amerikanischer Idylle wird dort besungen, abseits aller „Kriminellen“ und „Ausländer“. Für Biafra machen viele seiner Mitbürger da keinen Unterschied mehr.
Die Musik wütet, Schweiß und ein von unten aufkommender Biergeruch prägen nun die Luft. Jetzt überwog – trotz politischen Inhalts – der Punk wieder. Ralph Sights Zackengitarre gibt schon hier ihren wohl saturierten, fast quietschenden Klang ab, der den kurzen Solis zugrunde liegt. Das fiel schon positiv am aktuellen Album auf und bewährte sich live den ganzen Abend lang. Auch der Rest der Schulmediziner passt ordentlich in den Dortmunder OP. „Pets Eat Their Master“ ist eine feine, Fabel-artige Schelte gegen den massenhaften Fleischkonsum, bei der Biafra abermals sein Pantomimetalent nachweist. Vom erwürgten Politiker über den Marionettenspieler (wohl auch ein Politiker) zum hirnwaschenden Papst ist diesmal einiges dabei. Zu gutem Punk gehörte stets gute Performance, das wusste schon Iggy Pop.
So dreht er sich, kniend, mit dem Rücken zum Publikum, sein Shirt über dem Kopf aus – das Zeichen für den Beginn von „Holiday in Cambodia“. Der Dead Kennedy-Klassiker wird kurz vor Schluss so begeistert aufgenommen, dass die Front zwischen den Konzert-Zuschauern und der pogenden Menge sich schnell nach Außen verschiebt. Nach fast 120 Minuten und zwei Stage-Divern steht der 53jährige Frontmann auf der Bühne: durchgeschwitzt, mit etwas blutverschmiertem Hals singt er „I Won’t Give Up“. Für soviel musikalische Energie und politischen Widerstand bedarf es Ausdauer. Die haben Biafra und seine Schulmediziner im ausverkauften FZW bewiesen. Jetzt müssen sie nur noch eine Schule für Staatshaushaltspflege gründen.
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