trailer: Herr Stein, bitte komplettieren Sie den Satz: Denk ich an RUHR.2010 in der Nacht …
Rolf Stein: Nein, wegen der Kulturhauptstadt bin ich nicht um den Schlaf gebracht. Aber ich erlebe die Situation sehr widersprüchlich. Einerseits gibt es dieses bedeutsame Ereignis, andererseits sind alle Kommunen des Ruhrgebiets in einer fürchterlichen finanziellen Situation. Es gibt keine Einsparungsmöglichkeiten, die die jetzige Struktur der Städte nicht entscheidend verändern.
2010 wird ordentlich gefeiert, und zu Silvester ist vielerorts Ladenschluss?
Noch nicht einmal 2010 wird ordentlich gefeiert. Viele Kulturhauptstadtprojekte laufen als Notprogramme. Die zentralen Baumaßnahmen in Bochum, also Konzerthaus, Platz des Europäischen Versprechens, Marienkirche, sind heftig in Frage gestellt, obwohl mancher Kommunalpolitiker gerade dort mit dem Kopf durch die Wand will, wo sie am dicksten ist.
Der Bahnhof Langendreer beteiligt sich auch an RUHR.2010?
Wir waren mit der Stadt Bochum übereingekommen, in diesem und in den folgenden Jahren das Festival „Kemnade International“ zu gestalten. Kurz bevor wir mit der verbindlichen Planung begannen, stellte sich aber heraus, dass die Stadt Bochum ihren finanziellen Anteil wegen der Haushaltssituation nicht mehr leisten kann. Zunächst haben wir uns deshalb zurückgezogen. Inzwischen gibt es von unserer Seite Pläne, das Festival doch noch zu retten.
Privates Engagement soll dem Staat aus der Patsche helfen?
In diesem Fall kann das gelingen. Allerdings wollen wir kontinuierlich gute Qualität bei der „Kemnade International“ gewährleisten und keinen Abgesang veranstalten.
In Duisburg werden die Akzente in diesem Jahr gefeiert, und keiner weiß, was 2011 geschieht. Genau das wollen wir nicht. Ein Hauptanliegen von RUHR.2010 war die Nachhaltigkeit. Dieses Ziel ist nicht zu erreichen. Im Gegenteil: Die zukünftigen strukturellen Einschnitte können wir uns zurzeit noch gar nicht vorstellen.
Was raten Sie der Oberbürgermeisterin von Bochum?
Ich war entsetzt, als ich las, dass Ottilie Scholz noch immer am Bau des Konzerthauses festhält. Wir müssen mit der Lokalpolitik in einen konstruktiven Dialog eintreten, um zu erreichen, dass auch mit schrumpfenden Mitteln Strukturen erhalten werden können.
Gibt es eine heimliche Konkurrenz zwischen ehemaligen Latzhosen- und jetzigen Frackträgern?
Die Leuchttürme, also Schauspielhaus und Symphoniker, nehmen den Löwenanteil des Kulturetats für sich in Anspruch. Der Bedarf an interkulturellen Projekten wird hingegen völlig ausgeblendet. Das schafft für das Ruhrgebiet eine dramatische Situation, da Metropole ja gerade heißt, dass solche neuen Bedürfnisse auch berücksichtigt werden müssen.
Aber Bochum wird auch nicht geführt von einer Henne, die goldene Eier legen kann.
Uns ist klar, dass die Ursache der Misere nicht bei den Kommunen zu suchen ist, sondern der Bund Lasten bei den Kommunen ablädt, die von denen überhaupt nicht mehr zu schultern sind. Ein Beispiel: Durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat die Bundesregierung 10 Millionen Euro Steuerausfälle in Bochum erzeugt. Wir wissen, wo die Ursache und die Verursacher dieser Krise zu suchen sind, wobei nicht nur die jetzige oder die letzte Bundesregierung verantwortlich sind. Die Senkung des Spitzensteuersatzes hat unter Koch Schröder und Kellner Fischer begonnen.
Gegen diese politische Lage könnte eine Protestbewegung helfen.
Ich gestehe, dass die freie Szene aus dem Kultur-, Jugend-, Gesundheits- und Sozialbereich und auch die Gewerkschaften bislang viel zu wenig gemacht haben. Der Bahnhof Langendreer ist bemüht, Strukturen aufzubauen, die gemeinsam mit Lokalpolitikern in Richtung Berlin und Düsseldorf zum Ausdruck bringen, dass es so nicht weitergehen kann. Der Leistungsausgleich muss gewährleistet sein, denn Leben findet nicht im Reichstag statt, sondern hier vor Ort.
Wie geht es dem Bahnhof in Relation zu anderen Trägern?
Wir sind nicht wie andere Initiativen ausschließlich auf öffentliche Gelder angewiesen. Um den Fortbestand sozialer Projekte mache ich mir große Sorgen. Strukturen, die einmal zerstört sind, lassen sich nicht ohne weiteres wieder aufbauen. Man kann nicht ein Jahr lang das Licht ausmachen in der frohen Hoffnung, dass man es im nächsten Jahr wieder anmachen kann.
Was macht Ihnen in diesen Tagen gute Laune?
Ich freue mich, dass Frühling ist, und hoffe, dass alle, die durch die Streichung der sogenannten freiwilligen Leistungen betroffen sind, sich zusammentun, um die Verantwortlichen in eine heftige Diskussion über die Zukunft der Stadt zu verwickeln. Die Perspektivlosigkeit der Verantwortlichen bei der Stadt darf nicht dazu führen, dass nur noch mit Zwangsmaßnahmen reagiert wird. Die Situation von 2009 darf und wird sich nicht wiederholen. Erst Ende des Jahres erfuhren wir, dass wir deutliche Einschnitte hinzunehmen haben. Was mir letztlich wichtig ist: Wir wollen nicht jammern. Wir müssen die Situation politisch sehen und auch so handeln.
Interviewserie „Über Tage“
„Über Tage“ handeln, ohne „unter Tage“ zu vergessen. trailer-ruhr spricht mit streitbaren Menschen über das Ruhrgebiet.
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