Mit einer Kurbel treibt Toni Schleifer sein Karussell an und spielt dazu auf seinem Saxophon. Einige Runden lang dreht sich das Gefährt von 1939 gemächlich, bevor der Schausteller seinen Fahrgästen verkündet: „Wir fahren Tempo“. Durch schnelleres Kurbeln erreichen die kleinen Wagons, die sich auch auf- und ab bewegen, bald eine Geschwindigkeit von rund 40 km/h. In jedem Wagon sieht man glückliche Gesichter. „Könnt ihr noch?“, fragt Schleifer. Ein lautes „Jaaa“ ist die Antwort. Immer wieder interagiert Schleifer, der das Karussell mit seiner Frau Claudia betreibt, mit den strahlenden Erwachsenen, die sich sichtlich wieder wie Kinder fühlen: “Wollt ihr denn auch noch?“ Wieder wird lautstark bejaht. Als die wilde „Fahrt in's Paradies“ – so der offenbar passende Name des Fahrgeschäfts – dann irgendwann doch endet, gibt es Beifall.
Unter dem Dach der Jahrhunderthalle wurden für den Historischen Jahrmarkt, der zum zwölften mal stattfindet, noch viele weitere Attraktionen versammelt, die zwar alle schon einige Jahrzehnte alt, aber dennoch voll funktionsfähig sind: etwa ein Kettenkarussell, ein „Selbstfahrer“ (Autoscooter), die „Raupe“ unter deren Verdeck schon etliche Pärchen geknutscht haben, sowie ein Riesenrad. Von letzterem zeigt sich die 31-jährige Bochumerin Miriam Jurkait, zum ersten Mal auf dem Jahrmarkt, besonders begeistert: „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell ist. Von oben kann man über den ganzen Jahrmarkt gucken.“
Am heutigen Tag, an dem der Steampunk-Jahrmarkt, die erste Sonderveranstaltung des diesjährigen Historischen Jahrmarkts, stattfindet, fühlt man sich in andere Zeit versetzt: Die meisten Gäste tragen auffällige Outfits, die auf dem Kleidungsstil des viktorianischen Zeitalters basieren. Frauen schmücken sich mit langen Kleidern und Korsetts, und Männer kleiden sich in eleganten Anzügen mit Weste und Zylinder. Sie runden ihr Erscheinungsbild mit Accessoires wie Taschenuhren oder Schutzbrillen ab und tragen vielfach auch ausgefallenere Requisiten: dampfende, leuchtende oder bewegliche mechanische Apparaturen. Zahnräder und Dampf prägen die Ästhetik des Steampunk. Dieser ist eine Subkultur, die auf die Science-Fiction-Romane von Jules Verne, oder auch H. G. Wells' „Zeitmaschine“ zurückgeht und vom Erfindergeist und der Abenteuerromantik des beginnenden Industriezeitalters inspiriert ist. Ausgehend von einer Zeit, in der die Dampfmaschine den modernsten Stand der Technik darstellte, werden Visionen von zukünftiger Technik mit den Mitteln von damals erdacht – und auf dem Steampunk-Jahrmarkt präsentiert. Die Zeit, in die man sich hier versetzt fühlt, ist also eine Zeit, die es so niemals gab.
Christoph Rumpf aus Hennef an der Sieg ist in der Steampunk-Szene auch als Alrich von Schneider bekannt. Er verbringt viel Zeit mit seinem Hobby und besucht mit seiner Partnerin im Jahr zwischen 15 und 20 verschiedene Veranstaltungen. Dazu kommt viel Vorbereitungsaufwand: „Das, was wir tragen, muss auch noch gebaut, genäht und gebastelt werden. Da geht eine Menge Zeit bei drauf.“ An dem Gewehr, das er trägt, hat er beispielsweise acht Monate lang gewerkelt und auch in dem mobilen Morseapparat an seinem Arm steckt viel Arbeit. Nach dem Do-It-Yourself-Prinzip versuchen die meisten in der Szene, nach Möglichkeit alles selbst zu machen. Es werde aber auch niemand ausgegrenzt, der ein gekauftes Gewand trage, erzählt der 48-Jährige. Man spreche von Gewändern anstatt von Kostümen, erklärt er, da Steampunk „nichts mit Karneval zu tun“ habe. Nicht zu unterschätzen ist auch das Gewicht dieser Gewänder: Insgesamt trägt Christoph 15 kg mit sich herum – allein sein Hut ist 4 kg schwer. Am Ende sollte sich die Mühe für ihn auszahlen: Mit seinem Gewand, das von der preußischen Marine-Luftschiffflotte inspiriert ist, gewinnt er den ersten Preis für das beste Outfit des Tages und damit einen Reisegutschein im Wert von 750€ für den Besuch eines Steampunk-Festivals in Lincoln, Großbritannien.
Der Steampunk-Jahrmarkt, der in diesem Jahr zum fünften Mal stattfindet, ist für die Szene auch eine willkommene Gelegenheit, um mit Gleichgesinnten in Kontakt zu kommen oder zu bleiben: „Man kennt sich untereinander. Alle zwei bis drei Meter treffen wir wieder jemanden und es ist schön, die ganzen Leute wieder zu treffen“, erzählen Gabi Hennen und ihr Mann Heinz-Josef, beide Anfang 60, aus Geilenkirchen angereist. Sie trägt ein Kleid, das sie aus Büchern gemacht hat – genauer gesagt aus den gesammelten Werken von Goethe und Schiller: „Ich hatte immer schon ein Faible für außergewöhnliche Kleidung und im Steampunk kann ich das wunderbar ausleben. Die Szene lebt von der Kreativität“, so Hennen. Einen Kritikpunkt an der Veranstaltung haben die beiden allerdings auch: „Ich finde nicht gut, dass von uns so hohe Eintrittspreise verlangt werden. Die anderen Veranstaltungen des historischen Jahrmarkts sind alle günstiger“ merkt Heinz-Josef an. Im Gegensatz dazu sei es bei vielen anderen Veranstaltungen üblich, dass man einen Rabatt bekommt, wenn man in einem Steampunk-Gewand erscheint.
Christina Schröder (38) und ihr Mann Tom Kirstein (41) sind hingegen begeistert: „Für uns ist es der Jahresauftakt und gleichzeitig auch unser Lieblings-Steampunk-Event“, erzählt Christina. Besonders die Kulisse und die Fahrgeschäfte haben es ihnen angetan. Nachdem sie das erste Mal den Steampunk-Kleidungsstil gesehen hatte, schwärmte sie ihrem Mann davon vor und bald gingen die beiden gemeinsam zu ihrem ersten Event: „Da gingen wir völlig unter und die anderen wurden fotografiert“, erinnert sie sich. Doch die „gemeinsame Leidenschaft“ war geweckt. Um beim nächsten mal auch fotografiert zu werden, wurde an aufwändigeren Gewändern gearbeitet und der Plan ging auf. „Ich tüftele einfach gerne“, erzählt Tom, der die meiste Arbeit übernimmt. Für ihn sei das Entspannung. „Und wenn ich Glück habe, kommt etwas Gutes dabei heraus“, sagt er. Und Christina fügt hinzu: „Und ich trage es einfach gerne.“ Auch beim diesjährigen Steampunk-Jahrmarkt gehören Christina mit ihren großen Schmetterlingsflügeln aus Metall und Tom mit seinem dampfenden Zylinder wieder zu den beliebtesten Foto-Motiven.
Am Freitag, dem 1. März steht von 18 bis 1 Uhr die nächste Sonderveranstaltung an: Bei „Rock'n Roll anne Raupe“ wird mit Live-Musik die große Zet des Rock 'n' Roll und Rockabilly wieder aufleben lassen, bevor am am 2. und 3. März, von 11 bis 20 bzw. von 11 bis 19 Uhr noch einmal regulärer Jahrmarktsbetrieb stattfinden wird.
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