„Unsprechbares Zuhause" lautet die letzte Textzeile der Zeitgenössischen Oper „Neither" von Morton Feldman, mit welcher die zum Dreiklang zusammengefasste Oper-Zeit-Reise zum Geburtstag des Großen Hauses in einer kompositorischen Grenzerfahrung der Gegenwart mündet. „Unsprechbares Zuhause" beschreibt fast 400 Jahre nach deren Entstehung zugleich eindringlich die um Liebe und Tod kreisenden Lamenti – Klagegesänge als Charakterstudien – des „Opernerfinders" Claudio Monteverdi. Die Choreografin Annett Göhre und ihr langjähriger Dramaturg Jan Adamiak unternehmen mit Tänzern, Sängern und Instrumentalisten des Ensembles in der Kirche St. Georg zwei ganz unterschiedliche und sich doch bedingende Raum-Zeit-Erfahrungen. Barocke Klagegesänge verwandeln sich in Frauenbilder mit faszinierenden Ecken und Kanten. Es entstehen aus der Tradition gelöste, atemberaubend gegenwärtige Klänge, die als Körperstudien Raum und Zeit neu bestimmen. trailer sprach mit der Tänzerin und Choreografin Annett Göhre.
trailer: Frau Göhre, wie tanzt man in einem unsprechbaren Zuhause?
Annett Göhre: Ein unsprechbares Zuhause offenbart einem ganz verschiedene Möglichkeiten. Ich glaube, dass Tanz, der als Choreografin ja mein Zuhause ist, an sich schon ein unsprechbares Zuhause ist. Er hat immer eine andere Ebene als Schauspiel oder Gesang, aber Tanz ist in unserem Kulturkreis auch nicht so vertraut. Deshalb finde ich den Titel auch so wahnsinnig passend.
Wird die Inszenierung eher eine Performance, oder ist sie reines Tanztheater?
Ich habe ja die Inszenierung von zwei Stücken übernommen. Das „Lamenti über Liebe und Tod“ von Monteverdi und „Neither“ von Morton Feldman. Die sind szenisch und inhaltlich völlig unterschiedlich, unterschiedlicher als es nur sein kann. Das gibt mir auch die Möglichkeit, mit dem Tanz bei beiden Stücken völlig anders umzugehen. Beim Monteverdi wird viel getanzt, das ist sehr körperlich, was wir da machen. Ich sehe die Choreografie dort als Verlängerung von Musik und Gesang, der Tanz bringt noch eine emotionale Ebene dazu. In „Neither“ gehen wir eher medial mit den Tänzern um. Es wird einen Film geben, es wird eine Videoprojektion geben, da geht es eher in die Richtung Tanztheater, was ich aber auch sehr gerne nutze, weil man dann auch die Tänzer an diesem Abend von zwei völlig verschiedenen Seiten kennenlernt.
Von Monteverdi zu Feldman, von der Steinzeit ins digitale Zeitalter?
Das ist natürlich eine enorme Zeitspanne, die damit angesprochen wird. Wir werden nicht versuchen, diese Zeitspanne genau nachzuempfinden. Aber es liegt natürlich mit drin, wie wir mit den beiden Stücken umgehen, bei „Neither“ findet sich sehr viel Heutiges, und so kommt die Zeitspanne von Monteverdi bis Feldman automatisch vor.
Und warum ist in zeitgenössischen Inszenierungen immer Video dabei?
Da muss ich erst mal widersprechen. Ich glaube nicht, dass bei zeitgenössischen Inszenierungen immer Video dabei ist. Ich jedenfalls mache sehr viele Inszenierungen und benutze dabei sehr wenig Video. Ich denke aber, dass Video und der Umgang damit durchaus in unsere Zeit gehört und damit ein weiteres Element ist, das eben benutzt werden kann, auch wenn es grundsätzlich nicht immer benutzt werden muss. Die Technik gehört in die Zeit wie eben Handys auch, die wir ja auch ganz selbstverständlich mitbenutzen.
Wie wichtig sind für den Zuschauer der Kirchenraum und die darin produzierten Bilder?
Für mich war der Raum sehr wichtig. Wobei ich sagen muss, dass nicht der Kirchenraum, also die Kirche als Bauwerk für mich so wahnsinnig wichtig war. Aber die Tatsache bleibt, dass es ein anderer Raum als das Theater ist, also von vornherein eine andere Perspektive offenbart als dieser Guckkasten. Und so werden wir den Raum auch mit dieser Perspektive benutzen. Die Zuschauer haben die Möglichkeit, sich den Monteverdi von vier verschiedenen Seiten anzuschauen, bei „Neither“ werden sie dann gerade da sitzen, wo eben noch getanzt wurde, der Raum kehrt sich also um, was vorne war, rückt nach hinten. Mit diesen Perspektiven spielen wir, und da kommt dann natürlich auch der Kirchenraum mit seiner besonderen Akustik zum Tragen.
Lässt das noch Raum für eigene Assoziationen?
Das würde ich mir wünschen. Beim Monteverdi benutzen wir vier Musikstücke. Eigentlich sind das ganz eigenständige Stücke, die nichts miteinander zu tun haben. Die werde ich zwar szenisch verknüpfen, aber dabei möchte ich dem Zuschauer auch Raum geben für seine eigenen Gedanken.
Wie wichtig ist Hoch-Kultur in einer Stadt mit extrem hohen Arbeitslosenzahlen wirklich?
Ich glaube, dass Kultur und Kunst in jeder Form wahnsinnig wichtig sind, egal wie schlimm die Probleme drum herum sind. Das ist fundamental, selbst in den größten Krisenzeiten dürsten die Menschen nach Theater und Kunst in jeglicher Form. Ich glaube, dass dies etwas ist, was die Menschen in sich tragen. Wir sind hier nicht in Berlin oder New York. Aber wir machen den Menschen in Gelsenkirchen mit dem Dreiklang, mit drei Premieren an einem Tag dennoch ein unglaubliches Angebot.
19. Dezember, 15 Uhr I Kirche St. Georg,
Gelsenkirchen I 0209 409 72 00
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