Auch in einer nur scheinbar postatomaren Welt entkommen die Menschen ihren Toten nur durch wahrlich göttlich anmutende Ignoranz. Leich um Leich stranden an den Stränden des thebanischen Europa, gelangen in die Städte und doch – sie bringen keinen Nutzen, sind quasi „aus der Geschichte gefallen, die nicht die ihre war“ und ihre Geschichte wird beileibe kein Fliegenschiss werden, da kann der freundliche Thebaner in Mülheims Theater an der Ruhr Talkhow um Talkshow produzieren, wie heißt es so schön in Thomas Köcks Werk „Antigone. Ein Requiem“: „Wer die Toten zum Verwesen frei gibt, wird mit eigenen Toten büßen“ und diese Toten sind wohl das zeitgenössisch Immanenteste, das Köck, der zweimalige Gewinner des Mülheimer Dramatikerpreises in seiner Sophokles-Überschreibung wert erachtete. Die Jelinekschen Schutzbefohlenen aus ihrem Text von einem halben Jahrzehnt vorher lassen auch heute immer noch grüßen, auch der bereits darin verhandelte geheuchelte Menschenrechtsdiskurs bleibt virulent, trotz mutierter Viren und der damit verbundenen Ablenkung, allein das erbärmliche Lieferkettengesetz klebt schon als tagesaktueller Beweis an den blutigen Fingern unserer Lobbyisten-Tyrannen der letzten Tage – ist eben alles gelebte thebanisch-europäische Praxis. „There's no place for us“.
Talkshow der besonderen Art
Genug der assoziativen Zitiererei. Beleuchten wir die Inszenierung von Simone Thoma aus dem vergangenen Sommer unter aktuellen winterlichen häuslichen Quarantäne-Bedingungen. Ins weltweite Web Twitch, Brille und Kopfhörer auf, ab geht die Post in die telegene Schaubühne mit Nah und Ferneinstellung, mit wanderndem Schuss in die Totale. Man riecht nichts, man spürt keinen Raum und doch die Mischung aus Köck im Ohr und Thoma im Auge hat eine eigene Qualität, bleibt erstaunlicherweise mehr Theater- als Fernsehspiel, wenn auch die leeren roten Stuhlreihen schmerzen. Das Set für „Antigone. Ein Requiem“ ist ein bläuliches Fernsehstudio mit sechs durchsichtigen Kunststoffstühlen für eine skurrile Talkshow der besonderen Art. Hier trifft der egozentrische Konservatismus auf das Angesicht der Anderen, hier muss Talkmaster Kreon (Fabio Menéndez) Gesetze vor Werten schützen, Macht gegen Widerstand und Urbanität vor den wiederkehrenden Toten. Alle aus Sophokles Mythos kommen zu Wort, versuchen den Thebaner zur Umkehr zu zwingen, das Verwesen zu verhindern, Ursache und Erinnerung zu transportieren. Nur Ismene (Gabriella Weber) spiegelt die schweigende Mehrheit, die Gleichgültigkeit zum Lebensgut erklärt hat und jeden angeschwemmten Leichnam ignoriert. Regisseurin Thoma setzt gegen den gewaltigen Text gewaltige bewegte Bilder auf dem riesigen Videoscreen. Nicht als Bühnenbild, nicht als visuelle Erklärung, sondern eher als assoziativer Widerhall zu den nur selten dialogischen Sprachsequenzen im Potosí-TV mit Livemusik.
Die Wiege des Kapitalismus
Das Recht der Menschen ist noch lange kein Menschenrecht. Potosí liegt im heutigen Bolivien, 4800 Meter über dem Meeresspiegel. Sein Silberreichtum machte es im frühen 17. Jahrhundert zu einer der größten Städte der Welt und zu einem Massengrab für die indigenen Zwangsarbeiter, acht Millionen Leichen von Indianern liegen in der Erde von Pachamama. So wurden die Silberbarren für Spanien aufgewogen. Dann kam das Zinn, heute ist es das Lithium, verdienen werden daran wieder nur die internationalen Paragrafenverdreher des Menschenfressers Kapitalismus. When the moon is in the Seventh House and Jupiter aligns with Mars then peace will guide the planets and love will steer the stars. Musical „Hair“ von 1968! Ist klar, nur die Leichensäcke am Strand scheinen irgendwie Fremdkörper zu sein und: Was bedeuten eigentlich die Höhlenzeichnungen im Video?
Schutz der Gesetze vor den Menschen
Die Choreografie der Figuren bleibt am Bildschirm reduziert, strukturiert durch die Kameraführung, die sich der scharfen Lichtsetzungen unterordnet. Die wunderbaren detailreichen Kostüme (Elisabeth Strauß) kontrastieren das Zeitgenössische, sind quasi eine Persiflage auf den modernen nur behaupteten Konservatismus, die Höhlenzeichnungen machen also Sinn. Die Videosequenzen sowieso, können aber ihre Macht auf dem Bildschirm nur marginal entfalten. Immer wieder wird die Meeresbrandung und ihre Gischt zum verbindenden Element, Simone Thoma steuert elegant und pointiert durch den fließenden Text ohne Punkt und Komma. Landschaft Humanität, Liebe und Familie, alles hat Grenzen fabuliert Kreon gerade. Der Schutz der Gesetze auch gegen die Werte führe zum Frieden. Doch was taugt der Frieden, wenn er Leichen an den Strand spült? Im Hintergrund läuft die Zeit rückwärts, werden gesprengte Gebäude wieder hergestellt, was hält also die Welt auf der wir stehen aus, fragt Köck und Kreon wird ein Kind für seinen Frieden opfern. Who wants to live forever, singt das Ensemble. Antigone (Dagmar Geppert) wird ihren Verrat an den Gesetzen büßen.
Angst pflanzt Tyrannen
Willst du sie töten? Ich töte nicht. Black out. Nein. Kreon bevorzugt das Einmauern. Mit allen Konsequenzen. Die Masse auf der Videowand klagt, doch es nützt nichts. Das Menschenrecht bleibt Recht nicht für die Menschen. Stumm sieht man zu wie aus dem Dunkel kriecht, was nie verschwunden. Angst soll wieder heimisch werden, denn Angst pflanzt Tyrannen. Und da hat Köck den Nerv der Zeit erwischt. Und um nicht ganz im thebanisch-europäischen zu versinken, sitzt da ja noch Theaterchef Roberto Ciulli als Seher Teiresias der die Umweltsorgen prophetisch in die Expertenrunde der Talkshow wirft. Da steigen die Meere und die Tiere sterben aus. Auch eine Natter lässt ihn in einen Frauenkörper und leider wieder zurück wandern. Fazit: Männerkörper sind ein trauriges Verlies. Wieder rauscht das Meer und schwemmt wohl die nächsten an. Antigone wird noch in fünf Teile geteilt. Sohn Haimon (Maria Neumann) stürzt sich ins Schwert. Gattin Eurydike (Petra von der Beek) begeht Selbstmord. Die Toten folgen. Alles für die Gesetze. Bis hierher. Mehr hat Kreon nicht zu sagen. Die dystopische (An-) Klage ist vorüber.
Antigone. Ein Requiem | 13.3. 19:30 (Stream) | Theater an der Ruhr
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