Es gibt Dinge auf dieser Welt, ohne die unser Dasein kein bisschen an Lebensqualität verliert: Dazu zählen u.a. Bärchen-Salami, Big Brother oder Kreuzkümmel. Wie es von allem ein Gegenteil gibt, so gibt es auch jene Dinge, die hingegen ein Garant für Genuss und pure Freude am Leben sind. Für die es sich ergo lohnt, ein ganzes Jahr zu warten und die man keinesfalls missen will. Das Traumzeit-Festival am Duisburger Hochofen gehört zweifelsohne zur letzteren Kategorie. Bereits im vergangenen Jahr weckte das Open Air im Landschaftspark-Nord mit seinem scheinbar plötzlichen Ende am Abend des 20. Juni für eine kurze Krise bei all jenen, die unsanft in die reale Welt zurück geworfen wurden. Eine schwere Sehnsucht entstand nach 365 Tagen, die bitte möglichst schnell vorbei gehen mögen.
Am vergangen Wochenende war es endlich wieder soweit: Traumzeit – vom 16. bis zum 18. Juni holten die Veranstalter erneut 37 Musiker und Bands in den Landschaftspark und sorgten für Gänsehaut und Lichterglanz. Was für die Ruhr-Natives zur Alltagsszenerie gehört, entlockte nicht nur routinierten Festival-Besuchern wie Künstlern gleichermaßen Staunen und Ehrfurcht: Ein Hochofen ist ein Hochofen bleibt ein Hochofen – vor allem hier, in dieser Region – und dennoch waren Respekt und Begeisterung für das Duisburger Kleinod groß und spürbar.
Das Konzept des Traumzeit-Festivals ist auf den ersten Blick einfach und typisch für das Ruhrgebiet: Eine alte Fabrik / Zeche / Hütte / Industrieanlage wird zur Brutstätte für Kultur und Live-Musik, Besucher kommen, es gibt Bratwurst. Aber halt. Nicht so in Duisburg. Nicht nur kulinarisch ließ das Festival keine Wünsche offen, gleiches galt auch für die Musik. Wie schon im letzten Jahr setzten die Veranstalter vor allem auf Qualität und die Kraft des Unerwarteten. Ohne sich auf den Lorbeeren vom Vorjahr auszuruhen, wurde das Open Air inhaltlich wie konzeptuell spürbar weiterentwickelt und verfeinert. Denn während andere Festivals mit der wachsenden Aufmerksamkeit oftmals der Versuchung nicht widerstehen können, die Konkurrenz mit Mainstream-Künstlern zu überbieten bis schließlich alles zu einem konsistenzlosen Einheitsbrei verklebt, blieb das Traumzeit resistent – und sich selbst dabei treu.
Außer Frage steht, dass Headliner Milky Chance und der Brite Tom Odell die Massen begeistern können. Dass jedoch auch die Gebläsehalle beim Auftritt von Leif Vollebekk und Mammal Hands bis auf den letzten Platz besetzt war, spricht für die Experimentierfreude, die Veranstalter und Publikum teilen. Beim Montreal Jazz Festival wurden Mammal Hands bereits für ihre Mischung aus Jazz, Electronica und Folk gefeiert. Bonobo, Jamie Cullum und Gilles Peterson outeten sich gleichermaßen als Fans und auch in Duisburg gab es Standing Ovations für das Trio aus Manchester. Doch der Auftritt von Mammal Hands stellt nicht die einzige Sensation dar, die es in diesem Jahr beim Traumzeit-Festival zu erwähnen gilt: Auch der Klaviervirtuose Lubomyr Melnyk bildete eine eigene Insel im Line-Up und verzauberte spätabends noch in der Gebläsehalle.
Demnach ist es den Veranstaltern bereits mit wenigen Acts gelungen, eine Festival-Nische für sich selbst zu beanspruchen und den Begriff des Underdogs neu zu konnotieren. Dabei ist Underdog hier nicht das Wort der Wahl, schließlich war das Traumzeit in diesem Jahr erstmals ausverkauft. Um die 24 000 Menschen strömten über das Gelände, allein 70% der verkauften Karten waren Festivaltickets, die nicht erkennen ließen, ob es Besucher einer einzigen Band wegen nach Meiderich zog. Auch das Camping-Angebot, welches im letzten Jahr noch eher spärlich wahrgenommen wurde, zählte 2017 mehr als 500 stolze Camper. Dementsprechend zufrieden zeigten sich Kulturdezernent Thomas Krützberg, Festival-Leiter Frank Jebavy und Marcus Kalbitzer. Auch Andreas Vanek von der Sparkasse Duisburg, die als Hauptsponsor u.a. den Auftritt von Milky Chance übernahm, war überzeugt und lobte das Festival als „friedliches, harmonisches Fest“.
Dabei wagten es Jebavy und Kalbitzer in diesem Jahr, sich vollends über das Wetter erhaben zu zeigen, indem sie drei der großen Acts – die schwedischen Shout Out Louds am Freitag-, Tom Odell am Samstag- und Milky Chance am Sonntagabend – auf der Open Air-Bühne am Cowper-Platz spielen ließen. Gerade nach der regenreichen Erfahrung aus dem Vorjahr eine mutige Entscheidung, die sich jedoch 2017 bezahlt machte. Für viel Stimmung und Tanzbarkeit sorgte hier bereits am frühen Samstagnachmittag die Berliner Band Von wegen Lisbeth. Leisere Töne schlug das australische Indie-Duo Hollow Coves an, während Fil Bo Riva in der angrenzenden Giesshalle bei sonnigen Temperaturen mit Reibeisenstimme von Herz und Schmerz sangen, wie es nur die Generation Y kann.
Das Unerwartete, das Besondere, es hat in Duisburg seinen Platz gefunden. Geradezu erfrischend war die Unaufgeregtheit, mit der Betreiber und Künstler das Festival angingen und sich selbst von Kulisse und den Darbietungen anderer Musiker angetan zeigten. Mit einem fulminanten Auftritt, bei dem nicht zu Unrecht Bedenken um die Zukunft des Konzertklaviers aufkamen, beendete schließlich Tom Odell den Festivalsamstag. Er, der sonst Hallen mit 4000 Menschen füllt, genoss sichtlich die knappe Stunde Spielzeit am Fuße des Hochofens.
Der Sonntag folgte mit Superlativen: Die Dinslakener Kilians streuten mit ihrem letzten Konzert Wehmut und demonstrierten zugleich, dass Freude und Trauer nah beieinander liegen können. „Ein wunderbarer Tag, um in Rente zu gehen“, rief Sänger Simon den Hartog der tanzenden Crowd entgegen. Einen aufsteigenden Stern am Musikhimmel gab es hingegen wenig später auf der Cowper-Bühne zu erleben, wo die Jung-Band Giant Rooks bewies, dass man auch mit 18 Jahren schon ein ganzes Leben hinter sich haben kann – oder zumindest so klingen kann.
Kurz bevor Milky Chance ihren heiß ersehnten Auftritt ablegen konnten, spielte die Kölner Band Bukahara den Auftakt ihrer Sommer-Tour und wurde im Licht der Abendsonne zum heimlichen Highlight. Hochzeitstänze aus dem nahen Osten treffen hier auf Melodien irgendwo zwischen Folk, Reggae und Balkan Jazz. Musikalisch wie visuell ist die vierköpfige Band so besonders wie eine seltene Pflanze und das Duisburger Publikum verstand, sie zu schätzen. Als dann Headliner Clemens Rehbein und Philipp Dausch von Milky Chance schließlich mit erweiterter Band die Bühne stürmten, hatte man sich beinahe an den Ausnahmezustand Traumzeit gewöhnt. Viel rumgekommen sind sie in den letzten Jahren, seitdem ihr Song „Stolen Dance“ erstmals im Radio lief, und so zeigten sie sich dankbar für ein Konzert vor deutschen Fans. Die beherrschten textsicher auch die Songs des neuen Albums „Blossom“, welche tanzbar das Ende der Traumzeit besiegelten.
Dass vieles im Leben zu schnell vorbei geht, ist nicht erst seit diesem Festival eine bittere Wahrheit. Auch, wenn das Gefühl am Sonntagabend der Ratlosigkeit aus dem Vorjahr in vielem ähnelt, so lindert doch die Gewissheit um drei Tage im Juni 2018 bereits die Wehmut. Mit der Traumzeit 2017 hingegen haben sowohl die Stadt Duisburg als auch der Landschaftspark-Nord es nicht nur geschafft, das bereits qualitativ hohe Aufgebot und breite Spektrum an hochkarätigen Künstlern zu halten; darüber hinaus mausert sich das Traumzeit-Festival mit sicheren Schritten zu einem der besten Festivals der Republik – und es macht Spaß, dabei zuzusehen.
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