trailer: Frau Merkt, macht RUHR.2010 auch Angebote für Menschen mit Behinderung?
Irmgard Merkt: Soziale Teilhabe ist ein Qualitätsmerkmal von RUHR.2010. Dies bezieht sich zum einen auf die organisatorischen Bemühungen, einen barrierefreien Zugang zu vielen Veranstaltungen der Kulturhauptstadt zu ermöglichen. Menschen mit Behinderung sind aber auch Teil des künstlerischen Programms.
Wird es eigene Veranstaltungen hierfür geben?
Nein, Unterfestivals für Menschen mit Behinderung machen wenig Sinn. So würde nur eine Spezialkultur gefördert, die ein breiteres Publikum nicht erreicht. Mir geht es um Integration durch Kultur. In Großveranstaltungen, die ohnehin stattfinden, sollen Menschen mit Behinderung künstlerisch präsent sein. Beim „Day of Song“ am 5. Juni in der Schalke-Arena werden einige Lieder durch gehörlose Menschen mit Gebärdensprache begleitet. Die Gebärdensprache wird zum künstlerischen Ausdruck, wird zum Tanz.
Wie sollten Kulturveranstaltungen nicht aussehen?
Ich komme gerade aus Linz, der Kulturhauptstadt 2009. Mit dem Programm „sichtwechsel 09“ wird dort ungewöhnliche und fantastische integrative Kulturarbeit gemacht. Das muss man vorweg sagen. Gegenwärtig gibt es eine Ausstellung in der Landesgalerie, bei der etwa 40 Bilder als Ergebnis einer einwöchigen Workshoparbeit mit Geistigbehinderten gezeigt werden. Es waren drei, vier richtig gute Bilder dabei. Ich würde auf längere Sicht diese drei, vier Bilder lieber in einer Kunstausstellung neben anderen Werken präsentieren. Dabei ist es noch nicht einmal nötig, diese als Bilder von geistigbehinderten Künstlern zu etikettieren.
Warum?
Die Information „Das hat ein Geistigbehinderter gemacht“ löst im Betrachter unwillkürlich den „Trotzdem- Faktor“ aus. Der freie Blick auf das Werk wird verstellt. Kunst soll ja zunächst die generelle Kompetenz sichtbar machen. Über Kunst sollen Menschen mit Behinderung gezeigt, aber nicht als Behinderte vorgeführt werden. Über das Werk zur Biographie – das geht in Ordnung. Aber nicht umgekehrt.
Gibt es eine Hierarchie innerhalb der einzelnen Behindertengruppen?
Ganz bestimmt. Frech gesagt gibt es die Edelbehinderten, von denen jeder Mensch sofort beeindruckt ist. Das sind etwa Menschen mit Blindheit oder Körperbehinderung, die mental fit sind. Diese Gruppen zu integrieren, ist vergleichsweise leicht.
Welche Aufgabe ist schwerer?
Es ist schwieriger, Menschen mit geistiger Behinderung oder auch Menschen mit emotionalen Problemen zu integrieren.
Gibt es Beispiele für geistigbehinderte Kulturschaffende?
„Die Regierung“ in der Schweiz ist eine ganz verrückte und avantgardistische Truppe. In einer Wohngemeinschaft leben der Musiker Heinz Büchel und seine Partnerin Helena Schmid – sie ist die Managerin - mit fünf geistigbehinderten Personen zusammen. Die improvisieren zusammen, sind witzig, geistreich und inzwischen hochprofessionell. Die traten schon auf der EXPO 2000 in Hannover auf.
Holen Sie die Gruppe im nächsten Jahr auch ins Ruhrgebiet?
Ich weiß nicht, ob ich sie bezahlen kann. Die sind schon richtig teuer. In Deutschland gibt es natürlich auch besondere Gruppen. „Station 17“ und „Barner 16“ in Hamburg und „Just Fun“ in Bochum. Jede Gruppe ist anders, aber genial, der Status der Professionalität ist erreicht.
Ist so etwas im Ruhrgebiet zu sehen?
Barner 16 gastierte im Oktober 2008 beim Ersten Dortmunder Integrativen Soundfestival DIS im domicil. FIS gibt es in Fürth und HIS in Hannover. Ich bin gespannt, wann wir die Tonleiter durchhaben. Das Merkmal dieser integrativen Festivals: Professionelle Jazzer spielen mit Behinderten zusammen.
Sind geistigbehinderte Menschen bessere Musiker?
Nein. Der Anteil besonders ausdrucksstarker Menschen ist nicht größer als beim Rest der Bevölkerung. Musiker mit geistiger Behinderung müssen ebenso gefördert werden wie andere. Sie brauchen Unterricht wie alle, die sich musikalisch entwickeln wollen.
Das von Jean-Jacques Rousseau geprägte Bild vom „Edlen Wilden“ möchten Sie nicht unterstützen?
Auf keinen Fall. Dagegen wehren sich auch die Künstler. Einem Thomas Quasthoff treibt es die Zornesröte ins Gesicht, wenn er auf seine Körperlichkeit reduziert wird. Quasthoff geht völlig zurecht nicht auf Behindertenveranstaltungen.
Kann Kultur behinderte Menschen heilen?
Kultur unterstützt alle Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung.
Welche konkreten Veranstaltungen sind für RUHR.2010 geplant?
Das inklusive Kunstprojekt palaixbrut ist ein Mehrjahresprojekt, das 2010 internationale Produktionen zeigt. An der TU Dortmund gibt es im Oktober 2010 „Europa InTakt“ mit international und integrativ besetzten Workshops und Konzerten, hinzu kommt eine wissenschaftlich Fachtagung zum Thema Kulturarbeit und Menschen mit Behinderung. Als Dozenten für die Workshops kommen unter anderem der Star der Body-Percussion Keith Terry aus San Francisco und Wolfgang Stange aus London, der dort das integrative Tanztheater amici leitet.
Interviewserie „Über Tage“
„Über Tage“ handeln, ohne „unter Tage“ zu vergessen. trailerruhr spricht mit streitbaren Menschen über das Ruhrgebiet.
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