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Organisator Uwe Vorberg (links) und Johannes Kiess
Foto: Alina Seiche

Wie rechts ist Deutschland wirklich?

12. März 2015

Johannes Kiess über rechtsextreme Strömungen in der „Mitte“ Deutschlands – Spezial 03/15

Seit 2002 organisiert die Uni Leipzig im Zweijahresrhythmus die Erhebung der sogenannten Mitte-Studien, welche rechte Strömungen in der Gesellschaft feststellen und deuten. An der letzten Studie nahmen deutschlandweit über 2400 Personen zwischen 14 und 99 Jahren teil. Bei diesen handelte es sich um Menschen aus den unterschiedlichsten Verhältnissen. Untersucht wurden unter anderem die Neigungen nach Geschlecht, Ausbildung, Familienstand, Berufstätigkeit, Wählerverhalten und Religionszugehörigkeit. Im Rahmen der Mitte-Studien werden aus verschiedenen Themenbereichen je drei Aussagen gemacht, zu denen die Befragten sich äußern. Die Aussagen sind im Sinne der Vergleichbarkeit seit 2002 unverändert. Am 9. März stellte Johannes Kiess, wissenschaftlicher Mitarbeiter für vergleichende Kultursoziologie und politische Soziologie an der Universität Siegen und beteiligt an der Erhebung des letzten Jahres, die Ergebnisse der Erhebung vor.

Die Aussagen der Studie behandeln sechs Themen, darunter die Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und die Verharmlosung des Nationalsozialismus. Dabei lassen einige Fragen direkt die Alarmglocken läuten: „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“ oder „Es gibt wertes und unwertes Leben“. Diese hervorstechende Formulierung ist gewollt, erklärt Kiess: Jede Aussage beinhalte einen besonders konnotierten Ausdruck wie zum Beispiel den vorbelasteten Begriff des Führers. Die Thesen der Erhebung sollen zu Überlegungen anregen. Doch solch drastische Aussagen verleiten schnell dazu, nicht wahrheitsgemäß zu antworten. Das merkt auch Kiess an. Äußerungen wie das Bedürfnis nach einem Führer werden oft als Tabu angesehen. Da möchte man nichts Falsches sagen, auch nicht bei einer anonymisierten Umfrage. Aus diesem Grund seien die Ergebnisse mancher Fragen sicherlich verfälscht und die wahren Zahlen höher, so Kiess. Vor diesem Hintergrund schockieren manche Ergebnisse umso mehr.

Die Mitte-Studien verdeutlichen, dass rechtsextreme Strömungen nicht in Ost und West kategorisiert werden können. Zwar zeigt sich an den Ergebnissen, dass zum Beispiel Ausländerfeindlichkeit im Osten Deutschlands ein größeres Problem darstellt als im Westen. So stimmt knapp jeder dritte Befragte aus Ostdeutschland der Aussage zu, man solle Ausländer ausweisen, wenn die Arbeitsplätze knapp würden – im Westen ist nur rund jeder Fünfte dieser Meinung. Doch in anderen Kategorien wiederum zeigt sich, dass der Unterschied zwischen Ost und West oft gar nicht so groß ist wie gedacht. Besonders antisemitistische sowie den Nationalsozialismus verharmlosende Aussagen treffen im Westen auf mehr Zustimmung als im Osten. Zu diesen Aussagen gehört die Behauptung, der Nationalsozialismus habe auch seine guten Seiten.

Es lässt sich nicht abstreiten, dass die Situation nach dem Mauerfall in Ostdeutschland die verstärkte Ausländerfeindlichkeit und Befürwortung einer Diktatur zur Folge hatte. Doch die Mitte-Studien zeigen, dass es sich nicht geographisches Problem handelt. „Das ist ein strukturelles Problem“, so Kiess. Die Wirtschaftslage beeinflusse die rechtsextreme Haltung der Bürger. Und tatsächlich: Besonders der Verlauf der Studienergebnisse seit 2002 zeigt: Die rechtsextremen Einstellungen in der Gesellschaft sind insgesamt zurückgegangen. Doch zwischen 2008 und 2012, in der Zeit der Finanzkrise, steigen sie an. Besonders auffällig ist dabei die Befürwortung einer Diktatur. In Zeiten der Krise und Unsicherheit suchen die Menschen jemanden, dem sie folgen und vertrauen können.

Unsicherheit und die Suche nach dem richtigen Weg prägen allerdings nicht nur wirtschaftlich schwierige Phasen, sondern sind Teil des Erwachsenwerdens. Besonders junge Menschen sind anfällig für rechtsextreme Einflüsse. Politische Parteien wie die rechtspopulistische AfD haben das erkannt und konzentrieren sich besonders auf junge Erwachsene. Die Erfolgszahlen der AfD in den letzten Wahlen sind laut Kiess auch den Ergebnissen der aktuellen Studie zu entnehmen: „Was wählen Rechtsextreme?“, lautet eine Frage der Erhebung. Dass knapp ein Viertel nicht wählen geht, überrascht nicht. Doch insgesamt 36 Prozent entfallen auf die beiden großen Parteien CDU / CSU und SPD. Die AfD, 2014 das erste Mal in den Mitte-Studien vertreten, wählen rund sechs Prozent der rechtsextrem eingestellten Menschen. Johannes Kiess erklärt es sich so: Die NPD oder Rechte wollen viele nicht wählen, obwohl sich ihre Einstellungen mit diesen Parteien zumindest teilweise decken. Diese Menschen wählen lieber gar nicht oder eben die führenden Parteien. Mit der AfD hat sich scheinbar eine Partei der Mitte gebildet, die gleichzeitig rechtsextreme Ansichten vertritt. Diese Mitte der Gesellschaft wendet sich nun Parteien wie der AfD zu.

Die Frage, die sich schlussendlich stellt, ist: Inwiefern kann diese Mitte zu einer Bedrohung werden? Und wie groß ist die Gefahr, dass wir in den Rechtsextremismus abdriften? Auf diese Thematik geht Kiess in seinem Vortrag nicht ein. Uns bleiben lediglich die Ergebnisse der aktuellsten Mitte-Studien. Die beschreiben zwar insgesamt weniger Rechtsextremismus in der Gesellschaft – gleichzeitig ist die Abwertung bestimmter Gruppen jedoch gestiegen. Zu diesen Gruppen gehören unter anderem Muslime sowie Sinti und Roma. Es kann also nicht von einer Verbesserung die Rede sein, wenn die allgemeine Ausländerfeindlichkeit zwar abnimmt, sich dafür aber auf bestimmte Minderheiten fixiert. Die Ursachen dafür sehen die Forscher der Mitte-Studien in der Überbewertung der eigenen Nationalität. Deutschland geht es momentan wirtschaftlich gut – dieses Bewusstsein verleitet schnell zu einem Überlegenheitsgefühl. Das muss keinem böswilligen Gedankengut zugrunde liegen. Vielen fehlt schlicht eine aufgeklärte Sichtweise.

Alina Seiche

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