Ein Leben der Extreme, in dem Peer zu verbrennen droht, ein Leben ohne Halt und Bezug zur Wirklichkeit. Als alter Mann macht sich Peer auf den Heimweg: zu sich selbst? Oder zu Solveig, die noch immer auf ihn wartet? Mit „Peer Gynt“ hat der berühmte norwegische Dramatiker Henrik Ibsen 1867 ein Welt- und Lebensgedicht geschrieben, eine phantastische Mischung aus Volksmärchen, Abenteuergeschichte und philosophischer Abhandlung über den modernen Menschen zwischen Selbstverwirklichung und Ich-Verlust: Das Drama gilt zuRecht als der nordische „Faust“.
trailer: Herr Voges, wie viele Zwiebeln haben Sie bei den Proben schon verbraucht?
KAY Voges: (lacht) Ach, das hält sich im Rahmen, ich glaube, vielleicht anderthalb Sack.
Was ist so reizvoll am nordischen „Faust“?
Das ist ein Märchen, das ist ein Albtraum. Das ist eine Suche nach Identität und damit ein sehr zeitgemäßes Stück, fast Gegenwartsdramatik. Es ist verwunderlich, dass Ibsen zu seiner Zeit so modernes Theater geschrieben hat, das so halluzinierend, delirierend daherkommt.
Gibt es wie beim Faust auch so eine Art theoretisches Modell dahinter?
Es gibt viele Modelle. Und unglaublich viele Verweise, die Ibsen geschrieben hat, sowohl zu der Literaturszene von damals, zu der politischen Situation damals, zu Goethe. Die Frage ist, was ist davon heute für uns interessant. Es ist erstaunlich, dass man 100 Jahre später diesen Peer Gynt sieht und ihn aus dem Blickwinkel der Globalisierung betrachtet und dann so einen Menschen beobachtet, der durch die Welt zieht und nirgendwo zuhause ist. Dann denkt man sich, das ist ja eigentlich unsere Gegenwart, die da beschrieben wird: Ein Mensch auf der Suche nach sich selbst, der sich in einem Zustand der permanenten Zersplitterung befindet, weil er zwar überall ist, aber nirgendwo ankommen kann.
Und wo ist die „Feenwelt“ in der Jetztzeit?
Ich glaube, dass wir weniger ein Märchen erzählen, also dass ein Mensch in eine Trollwelt kommt, sondern für die Figur ist das eher wie ein Albtraum, wie in unseren Albträumen, wo wir uns in die verschiedensten Figuren hineinverwandeln und wieder zurückverwandeln. Ich lese dieses Stück auch eher innerpsychisch, als es so orthografisch zu sehen.
Sind wir heute alle vom Realitätsverlust bedroht?
Ich würde nicht Realitätsverlust, sondern Identitätsverlust sagen. Das ist ja auch das Thema, was ist ein Individuum, was ist Identität? Das Spannende ist, ganz am Ende sagt Peer Gynt: „Ich bin nie zuhause gewesen. Ich war nie bei mir selbst. Wo war ich denn die ganze Zeit?“ Da sagt dann Solveigh: „Du warst in meiner Liebe, in meinem Glauben, meiner Hoffnung“. Da findet Ibsen eine These, dass sich Identität immer nur aus einer Spiegelung im anderen kreieren kann und das finde ich aufregend. In Zeiten, wo jeder seinen Blog hat, sein Facebook-Profil und jeder versucht, seine Individualität zur Schau zu stellen, ist Individuellsein - wenn alle individuell sind - auch schon wieder ein kollektives System, das nichts mehr mit Individualität zu tun hat. So gehen wir dieses Stück an. Wir haben nicht einen Peer Gynt, wir haben sechs Peer Gynts, die sich eigentlich permanent die Klinke in die Hand geben und die Geschichte weitertreiben und immer wieder an die gleiche Fragestellung kommen, was macht mich denn einzigartig, was macht meine Individualität aus. So ist es weniger eine psychologische Studie eines Menschen, sondern eher einer Untersuchung nach dem Peer Gynt-Prinzip in uns, im Spiel, in der Gesellschaft.
Hat Ibsen die neue, virtuelle Welt schon vorweg genommen?
Ja und nein. Weil es die virtuelle Welt, die wir als was Neues behaupten, schon viel länger gibt. Vielleicht nicht digital, aber auf jeden Fall in unseren Träumen, in unseren Sehnsüchten ist sie immer vorhanden gewesen.
Macht es einen Unterschied, ob ein Regisseur aus Mitteleuropa oder aus Nordeuropa kommt?
Ja. Ich glaube, dass wir verschiedene kulturelle Prägungen haben und das ist auch der Grund, warum wir so neugierig sind darauf mit Regisseuren aus anderen Nationen zu arbeiten. Weil da immer wieder neue Impulse kommen, mit anderen kulturellen Bildern, als den, mit denen wir groß geworden sind. Wir haben zuletzt einen ägyptischen Bühnenbildner am Haus gehabt, der eine ganz andere Bilderwelt mit sich herumträgt oder auch französische, holländische und italienische Regisseure, die mit ganz anderen Ästhetiken aufgewachsen sind und anderen Phantasien. Aber es bleibt Theater, weil wir alle gemeinsam auch Homer haben, Shakespeare haben und vielleicht auch Ibsen. So unterschiedlich die kulturellen Wurzeln sind, so gemeinsam ist die Theaterwelt dann doch. Das ist wie in der Musik. Diese Weltmusik ist spannend, durch die verschiedenen Genres, die es gibt, aber trotzdem: ein A ist ein A – darauf können wir uns einigen.
Aber Peer Gynt sitzt den Skandinaviern tiefer in der Seele?
Der Peer Gynt, den ich jetzt mache, wird ein deutscher Peer Gynt (lacht). Natürlich ist es so, dass die Heiligkeit eines Textes oder Autors spezifisch ist. So wie wir mit unserem Goethe sehr heilig umgehen, so gehen die Norweger mit ihrem Peer Gynt heilig um. Deswegen sind Faust-Inszenierungen in Norwegen meistens wesentlich aufregender und skrupelloser als in unserem Kulturkreis. So glaube ich auch, dass unser Peer Gynt eine ungewöhnliche, radikale Setzung ist. Peter Stein hat für seinen Ibsen-Abend, seine legendäre Peer Gynt-Inszenierung, acht Stunden gebraucht. Da wir das nicht toppen können, dauert es bei uns nur anderthalb Stunden.
„Peer Gynt“ ISa 29.9. 19.30 Uhr (Premiere) I Theater Dortmund I 0231 502 72 22
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