Während draußen der Herbstwind die letzten Blätter von den Bäumen fegt, nimmt Münevver Karaoğlu drinnen einen Stift in die Hand. Sie will ihre Eindrücke in Deutschland lyrisch festhalten: die Familie, die in der Türkei fehlt, die fehlende Gesellschaft in der neuen Heimat. Entstanden ist ihr Gedicht „An meine Familie“. Fernweh plagen die junge Frau, in ihren Versen schreibt sie an die Liebsten daheim: „Konnte nicht fliegen in die weite Welt/ Habe nichts davon erfahren, was Euch bedrückt/ Werde vom Winde gefegt wie trockenes Blatt/ Habe gewartet auf den morgigen Tage lieber als/ heute“
Münevver Karaoğlu gehört zu den acht Frauen, die in dem Buch „Wir hier oben – Ihr da unten“ porträtiert werden und über ihre Erfahrungen an der Seite türkischer Bergleute erzählen. Am Dienstag, 30. Oktober haben die Herausgeberinnen vom Verein für Internationale Freundschaften e.V. Dortmund den Band in der Auslandsgesellschaft vorgestellt.
Münevver Karaoğlu, mitanwesend bei der Buchpräsentation, erzählt dort über die Entstehungsgeschichte des Werks und erinnert sich an ihre ersten Jahre in Deutschland, wo sie 1973 ankam. Hier lernte sie auch Murtaza kennen, einen Gastarbeiter, der im Ruhrgebiet als Bauingenieur tätig war. Beide verliebten sich. Nach ihrer Hochzeit zogen sie gemeinsam in eine kleine Siedlungswohnung in Dortmund-Scharnhorst. Doch das neue Leben war hart und traurig. Murtaza leistete Schichtbetrieb in der Zeche Haus Aden, meistens von Montag bis Samstagnachmittag. Gemeinsame Zeit blieb ihnen nur selten, wie sich Münevver Karaoğlu im Buch erinnert: „Ich war allein, kannte kein Wort Deutsch, wusste nicht, wo ich war, hatte keine Ahnung vom Leben hier, keine Erfahrung mit einem eigenen Haushalt und musste sehen, wie ich zurechtkam.“
Die Frauen kostete es eine Überwindung, an dem Buchprojekt teilzunehmen. Darin gibt auch Karaoğlu an diesem Abend in Dortmund einen Einblick: „Sie haben alle geweint. Doch dann haben wir gesagt, wir machen das.“ Alleine beim Gedanken, sich öffentlich an diese Zeit zu erinnern, seien bei den Porträtierten die Tränen geflossen. Viele Frauen haben schließlich abgesagt.
Wie schwer das Leben an der Seite türkischer Bergleute sein konnte, erlebte auch Gabi Kanag. 1964 lernte sie Zeki kennen, einen Lehrling, der aus der Türkei kam. Was dann passierte, war in den frühen, rigiden 60er-Jahren unter Bundeskanzler Ludwig Erhard keine Selbstverständlichkeit: eine Liaison zwischen einer Tochter aus einem Bergarbeiterhaus und einem türkischen Gastarbeiter. „Es war klar, dass die Familie davon nicht begeistert war“, erinnert sich Gabi Kanag. Das traf auch auf Zekis Familie in der Türkei zu. Doch 1969 reisten beide in die Türkei. Drei Tage waren sie mit dem Auto unterwegs, um dort eine gemeinsame Zeit im vollen Familienhaus zu verbringen. 1971 folgte ihre Hochzeit. Und spätestes als ihre Kinder unterwegs waren, akzeptierten auch beiden Familien ihren gemeinsamen Lebensweg, so Gabi Kanag an diesem Abend: „Wir haben uns durchgesetzt und heute sind wir über 50 Jahre verheiratet.“
Frauen türkischer Bergleute sind heute weitgehend aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Die versammelten Porträts rücken diese Lebenswelt aus Maloche, Migration und Multikulturalismus ins Gedächtnis. Als Spurensuche in Form kleiner Biographien.
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