Antisemitismus sei ein Lackmustest für unsere Gesellschaften, stellt Andreas Nachama fest. Wachsende Feindlichkeit gegen Juden bedeute weniger Freiheiten auch für andere Minderheiten. Er spitzt zu: „Wer ein Vorurteil hat, hat auch gerne noch ein drittes.“ Wer also glaube, Antisemitismus gehe nur andere was an, irre sich gewaltig.
Nachama, 1951 geboren, ist geschäftsführender Direktor der Berliner Stiftung Topographie des Terrors, die sich seit 1987 mit dem nationalsozialistischen Terror auseinandersetzt. Er ist promovierter Historiker, ordinierter Rabbiner und wurde 2015 in den neu aufgestellten unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus berufen, der den Antisemitismusbericht des Deutschen Bundestages erarbeitet. Mit Verweis auf seine jahrzehntelange Erfahrung betont er, es genüge nicht, Antisemitismus mit jüdischen Kulturtagen zu begegnen oder mit einem obligatorischen Schulbesuch in einem Konzentrationslager. Entscheidend sei, mit denen ins Gespräch zu kommen, die antisemitischen Vorurteilen anhängen.
Wie dieses Gespräch geführt werden kann? Auch darum soll es gehen an diesem Abend in der Dortmunder Auslandsgesellschaft, unter dem Titel „Antisemitismus entschlossen bekämpfen, jüdisches Leben in Deutschland weiterhin nachhaltig fördern“.
Zuvor stellt Nachama einige Ergebnisse des aktuellen Antisemitismusberichts von 2017 zusammen, ergänzt um einige neuere Erhebungen. So verzeichnet die Statistik für das Jahr 2017 eine Verdopplung von antisemitisch motiviertem „verletzendem Verhalten“ gegenüber dem Vorjahr. Diese Tendenz setzt sich offenbar fort: Eine aktuelle Auskunft der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion nennt einen neuerlichen Anstieg antisemitischer Gewalt- und Straftaten auch für 2018.
Es geht an diesem Abend nicht um eine ausführliche Diskussion der Statistik, doch diverse Aspekte sensibilisieren das Publikum dafür, wie komplex die Faktoren sind, die Antisemitismus beeinflussen. Beispiel Westeuropa in den Jahren 2014/15 (Belgien, Frankreich, Deutschland Italien, Spanien, Großbritannien): Hier ist Antisemitismus unter Muslimen viel weiter verbreitet als in der restlichen Bevölkerung, der Wert liegt teils doppelt so hoch. Im Libanon des Jahres 2014 sind antisemitische Einstellungen allerdings sowohl unter Muslimen (82 %) als auch Christen (75 %) sehr stark verbreitet, in Nigeria hingegen schwach unter Christen (22 %) und noch schwächer unter Muslimen (8 %). Deutlich gewichtet ist die Täterschaft innerhalb der allgemeinen Kategorie politisch motivierte Kriminalität (PMK): Im Jahr 2015 gingen in Deutschland 1246 Fälle auf rechtsmotivierte Täter zurück, 78 auf linksmotivierte, 37 auf ausländische und 29 auf solche, die jenen drei Kategorien nicht zugeordnet werden.
Was ist also zu tun? Selbstverständlich fordert Nachama nicht, schulische Gedenkstättenbesuche einzustellen. Es müsse klar werden, was da überhaupt zu sehen ist: Zeugnisse eines Systems, in dem nicht alle gleich vor dem Gesetz waren, in dem Polizei und Justiz weitgehend nach Willkür verfahren konnten. Ein Einstieg in eine Diskussion seien Fragen wie: Wie ist das in deinem Land? Wie ergeht es dort Frauen, Christen, Homosexuellen oder Arbeitslosen? Die ganze Gesellschaft müsse in den Blick rücken, jedes Menschen grundsätzliche Betroffenheit, sodass verständlich werde: In einem Unrechtssystem kann sich niemand sicher sein, durch eigenes vermeintliches Fehlverhalten in eine bedrohliche Lage zu geraten. Freiheiten, die wir selbstverständlich genießen, seien schließlich von Menschen erkämpft worden wie jenen, die sich den Nationalsozialisten widersetzt haben. „Demokratie hat Geschichte“, sagt Nachama. Solche Einsichten könnten, auf lange Sicht wenigstens, etwas ändern.
Angesichts der „explodierenden Fallzahlen“ sei auch die breite Etablierung von Ombudsmännern und -frauen unverzichtbar, eigens für die Auseinandersetzung mit antisemitischen Vorfällen. Sonst fange man jedes Mal bei Null an, sagt Nachama. Lobend nennt er die Berliner Generalstaatsanwaltschaft, die zum September 2018 eine Antisemitismusbeauftragte ernannt hat. Diese Spezialisierung könne beispielsweise auch in Bürgergemeinden erfolgen oder in jüdischen Gemeinden. Opfer antisemitischer Übergriffe scheuten zuweilen den Gang zur Polizei, aus der Erfahrung heraus, dass es Behörden schwerfalle, hiermit umzugehen – nicht aufgrund von mangelndem Willen, sondern weil die allgemeine Arbeitsbelastung es drastisch erschwere, mit antisemitischen Straftaten angemessen umzugehen.
In der anschließenden Diskussion spricht ein Hörer etwas an, das in der öffentlichen Diskussion in Deutschland immer wieder Anlass für erbitterte Auseinandersetzungen ist: Welche Art von Kritik am Staat Israel darf darauf hoffen, nicht ungerechtfertigt unter Antisemitismusverdacht zu geraten – beispielsweise, wenn es um die Siedlungspolitik Israels geht? Nachama verweist kurzerhand auf israelische Tageszeitungen, in denen sich ebenfalls „sehr grundsätzliche Kritik“ an der eigenen Regierung finde. Selbstverständlich sei das legitime Kritik, die nicht abgewürgt werden dürfe. Die Grenze werde überschritten mit unzulässige Generalisierungen gegen Juden, einer Infragestellung des Existenzrechts Israels oder mit Boykottaufrufen, die von keiner seriösen Auseinandersetzung zeugten. Sachkenntnis sei entscheidend.
Eine Hörerin fragt, wie es überhaupt gelingen sollte, mit Antisemiten ins Gespräch zu kommen. So falle es ihr schwer, eine gemeinsame „menschliche Ebene“ auszumachen, wenn sie sich Pegida- oder AfD-Anhängern gegenübersehe, die antisemitische Positionen verbreiteten. Hierauf antwortet die Moderatorin des Abends, die Anthropologin Dani Kranz. Die Sozialforschung gehe grundsätzlich davon aus, dass 5 bis 10 Prozent derjenigen, die gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit anhängen, ohnehin nicht für ein Gespräch zu gewinnen sind. Diese kleine Gruppe sei „brandgefährlich“, so Kranz. Es gebe aber auch eine gute Nachricht: „Mindestens 90 Prozent lassen mit sich reden.“
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