Leicht hat es die EU in den vergangenen Jahren nicht gehabt: Ein umstrittener Friedensnobelpreis 2012 kreuzte sich tragisch mit einer steigenden Anzahl von Flüchtenden und Toten im Mittelmeer. Mit der Griechenland-Krise 2015 wurde die Moral der Währungsunion offenbart, die sich schließlich mehr oder weniger öffentlich zum Kapitalismus bekannte. Neben dem Brexit war es vor allem der merklich steigende Rechtspopulismus, der den Staatenbund vor nicht allzu langer Zeit erzittern ließ. Mit einem Wahlsieg von Marine Le Pen Mitte April hätte es schlecht für den Euro ausgesehen – und mit ihm für Europa.
Doch der französische Präsident heißt Emmanuel Macron. Auch in den Niederlanden kam es nicht zum befürchteten Rechtsruck. Trotz der länderübergreifenden Woge der Erleichterung können jene Wahlergebnisse nicht von der Tatsache ablenken, dass die EU ein Image-Problem hat, ja, eine Krise durchlebt und noch immer um Mitgliedsstaaten wie Ungarn oder Polen bangt. Grund genug, Chancen und Probleme der Nachkriegsallianz zu untersuchen. Bei der Projektwoche handelt es sich um eine Kooperation des Europe-Direct Informationszentrums Dortmund, der Auslandsgesellschaft NRW e.V., des DGB Dortmund-Hellweg und der Stadt Dortmund. An vier Tagen mit Podiumsdiskussionen, Workshops und Vorträgen geht es um die große Frage: „Kann Europa als Sozialunion gelingen?”
So wünscht es sich zumindest die EU selbst, die den engagierten Wunsch hegt, im Jahr 2025 nicht mehr nur Währungsunion zu sein. Ein entsprechend leidenschaftliches Plädoyer hielten Emmanuel Macron und der damalige deutsche Bundeswirtschaftsminister Siegmar Gabriel bereits 2015 in einem Beitrag für die Tageszeitung Die Welt. Auch am heutigen Abend steht die Verantwortung der EU für die Qualität des sozialen Lebens im Vordergrund. Zum Thema „Altern mit Zukunft: Das Leben nach der Erwerbstätigkeit in Europa“ haben die Veranstalter Heinz-Wilhelm Schaumann von der Hochschule Koblenz eingeladen. Der Dozent für Internationale Wirtschaftspolitik und Europäische Studien ist neben seiner Lehrtätigkeit in Rheinland-Pfalz und Berlin auch ehrenamtlich in der überparteilichen Europa-Union Deutschland aktiv, sowie im Sozialverband VdK. Dass Schaumann außerdem auf ein weiteres Pferd – den Weinbau – setzt, ist eine Information, die sich auch ohne thematischen Bezug einen festen Platz im abendlichen Vortrag sichert.
Bevor dieser jedoch zu Wort kommt, spricht neben Eckhard Kohle und Rainer Frickhöfer von der Auslandsgesellschaft NRW e.V. die Vorsitzende der Landesseniorenvertretung NRW, Gaby Schnell. Aktuell ist das Thema, um das es an diesem Abend geht – aktuell und vor allem beklemmend. 3,6 Millionen Menschen über 65 Jahren zähle allein das Land NRW, so Schnell, und deren Risiko, in Altersarmut zu geraten, steige. Schuld sei weniger der demographische Wandel, sondern ein System, das selbst im Laufe eines 70 Jahre währenden Lebens kaum Veränderung und Chancen vorsehe. Die Voraussetzungen für Altersarmut würden also früh gelegt – oft zu einem Zeitpunkt, zu dem viele noch arbeiteten, das Gehalt jedoch bereits nicht mehr zum Leben reiche.
Es ist ein Thema, das auf das Engste mit den Parteiprogrammen und Beschlüssen bestehender Regierungen zusammen hängt. Darüber hinaus jedoch sind kulturelle Überzeugungen, Geschlechterrollen und die Aufstellung und Gewichtung von Familienbünden wesentliche Faktoren, die die verschiedenen Sozialsysteme innerhalb der EU haben entstehen lassen. Diese lässt Referent Schaumann größtenteils unerwähnt, während er sich hauptsächlich mit Statistiken und Anekdoten begnügt.
Das Resultat hingegen bleibt zunächst das gleiche: Jedes Mitgliedsland der EU besitzt ein eigenes Sozialsystem, auf das es stolz oder zumindest mit traditionsgelenktem Blick schaut. Während in Skandinavien alle notwendigen Leistungen durch Steuern eingetrieben werden, müssen sich Deutsche zwischen privaten und gesetzlichen Kassen entscheiden. Während der deutsche Rentner im Schnitt 42 Prozent seines früheren Bruttogehalts erhält, erhält ein Grieche 88,1 Prozent – aber auch nur, weil sein Gehalt zuvor bereits so niedrig war. Wie also sollte die Rentenpolitik bei all diesen kleinen und doch ausschlaggebenden Unterschieden jemals europäische Verantwortung werden, geschweige denn einen Konsens finden?
Der größte gemeinsame Nenner, so die Überlegung der einstigen Wirtschaftsunion, liegt auch hier in den Zahlen. Sie sprechen für sich, sind vergleichbar und sollen den Weg zur Sozialunion ebnen. Wer unter 1,90$ am Tag zur Verfügung hat, zählt laut WeltBank zu den absolut Armen. Weil in den Industriestaaten jedoch nach dieser Rechnung kaum bis keine Armut bestünde, nennt Schaumann den Begriff der relativen Armut, die nach Mittelwerten berechnet wird. Im Laufe seines Vortrags bietet Schaumann viele Ausflüge in die Wirtschaft, nennt und erklärt Begriffe wie den der „Bruttoersatzrente“ oder zeigt Graphiken zu Erwerbstätigenquote oder zum tatsächlichen Berufsausstieg.
Die Senioren im Publikum im Westfalia-Raum des Dortmunder Rathauses beweisen mit reger Anteilnahme an Vortrag und Diskussion, dass Alter keineswegs Stillstand bedeutet. Immer wieder werden Fragen gestellt, Begrifflichkeiten untersucht oder persönlicher Unmut bekundet. Dabei wird die Diskrepanz zwischen Zahlen und gelebtem Alltag deutlich, denn mehr als einmal verfehlen Karte, Diagramm oder Graphik ihre Wirkung.
Trotz der aktuellen Thematik leidet auch die anschließende Diskussion unter verbreiteten Verallgemeinerungen. Es gelingt Schaumann nur mäßig, Bezüge zwischen Realität, Statistik und der Frage einer möglichen Sozialunion herzustellen, auch wenn diese auf der Hand liegen. Das Hantieren mit Durchschnittswerten ist wohl notwendig, um verschiedene europäische Sozialsysteme miteinander zu vergleichen, erweist sich allerdings eher als Hindernis auf dem möglichen Weg zu einer Sozialunion: Die Vergleichbarkeit einer griechischen, portugiesischen oder italienischen Rente mit einer deutschen Rente führt letztlich zu der wohligen Floskel „Uns geht’s ja noch gut“, die viele Politiker in abendlichen Talk Shows dazu bringt, sich entspannt zurück zu lehnen.
Doch die Zukunft sieht anders aus: 2036 werden 7% aller deutschen Rentner auf die Versorgung durch Tafeln angewiesen sein. 20% der Bevölkerung über 65 sind dann armutsgefährdet, beziehen also weniger als 40% des landesweiten Durchschnittsgehalts; das liegt derzeit bei 2800 Euro brutto. Während unsere Lebenserwartung im Jahr 2030 die magische 90 übersteigt, bleibt also die Frage, wovon wir leben sollen. Die meiste Zeit unseres Lebens werden wir alt sein – jenseits von körperlichen Gebrechen kann diese Zeit auch finanziell schwierig werden.
Zur übergeordneten Frage der Möglichkeit einer Sozialunion und wie diese aussehen könnte, kommt es an diesem Abend leider nicht. Die großen Schwierigkeiten der EU, die dem Gedankenspiel Sozialunion im Wege stehen, können nur angedeutet werden. Dabei liefert Schaumann selbst immer wieder genügend ausreichende Gründe, warum ein derartiges Vorhaben derzeit eher Zukunftsmusik ist. Wie viele weitere Länder etwa würden austreten, wenn beschlossen wird, dass Rentenverteilung und -beiträge nun von der EU geregelt werden? Wie viele Stimmen mehr würden AfD, Front National oder PiS gewinnen, wenn Europa auch noch in dieses länderübergreifende und doch individuelle Thema eingreift? Blicken wir beispielsweise auf die Auswirkungen des Bologna-Prozesses hinsichtlich der Qualität von Studium und Lehre, so ist die Generation Praktikum viel eher ein Symptom als eine Ursache. Welche Symptome eine europäische Sozialunion mit sich bringt, darüber wird und will man sich vorerst keine Gedanken machen.
Es ist eine Diskussion, die letztlich von mehr Redebeiträgen aus dem Publikum und weniger Hinweisen auf die private Weinbau-Tätigkeit des Vortragenden profitiert hätte. Dass jedoch im Publikum zahlreiche Verfechter der europäischen Idee sitzen, ist eine beruhigende Feststellung. Auch Referent Schaumann gehört zu den Befürwortern.
Wer sich an diesem Abend Antworten auf wesentliche Fragen zur Sozialunion und ihrer Systeme erhoffte oder gar wünschte, Einblicke in die verschiedenen europäischen Rentensysteme zu erhalten, wurde enttäuscht. Jedoch gelingt es der Veranstaltung, jenen Fragen Gehör und Zeit zu verschaffen, die an anderen Orten untergehen – allein deshalb ist der Dortmunder Projektwoche ein wichtiger Impuls gelungen, der trotz aller Unterschiede das Gemeinsame unterstreicht.
Projektwoche: Liegt Europas Zukunft im Sozialen? | bis 29.6.17 | Dortmund, diverse Orte | Projektwoche
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