Die Kinder in Fukushima spielen fast ausschließlich zu Hause, in den eigenen vier Wänden. Wenn sie vor die Tür gehen, dann nur, weil sie zur Schule müssen. An ihren Schultaschen baumeln kleine bunte Messgeräte – Dosimeter. Während der Unterrichtszeit fährt eine Mutter zum Schulgelände. Sie hat ebenfalls ein Strahlungsmessgerät dabei, das mittlerweile zur Grundausstattung eines jeden Haushalts in der Region gehört. Vor dem Schulgelände misst sie die Strahlung auf dem Boden. Von 10 schnellt die Zahl hoch auf über 50 Millisievert. Die maximal erlaubte Strahlendosis für beruflich der Strahlung ausgesetzte Menschen in Deutschland beträgt 20 Millisievert pro Jahr.
Vier Jahre liegt das Tohoku-Erdbeben, das einen Tsunami und die größte nukleare Katastrophe seit Tschernobyl nach sich zog, nun zurück – und droht, aus unserem Blickfeld zu verschwinden. Am Jahrestag der Katastrophe zeigte die Auslandsgesellschaft NRW deshalb den mehrfach ausgezeichneten Dokumentarfilm A2-B-C von Ian Thomas Ash, einem amerikanischen Filmemacher in Japan. Dieser besuchte Jahre nach dem Super-GAU Familien in der Region Fukushima und begleitete sie in ihrem Alltag. Von Anfang an ist klar: Fukushima mag nicht mehr interessant genug für die Medien sein. Doch die Lage für die Betroffenen hat sich nicht verbessert.
Längst ist bekannt, dass die japanische Regierung nach dem Atomunglück im Kraftwerk Fukushima Daiichi viel zu lange mit der Evakuierung der umliegenden Gebiete wartete. Ein großer Teil der Strahlung, der die Anwohner ausgesetzt waren, belastete sie in den ersten drei Wochen nach dem Unglück, die sie noch in der Umgebung verbrachten. A2-B-C konzentriert sich auf die Folgen der Katastrophe für die Menschen in der Präfektur Fukushima. Dabei legt Ian Thomas Ash besonderen Wert auf die Darstellung der Situation der Kinder. Denn für sie sind die Folgen am gefährlichsten.
Ash begleitet Arbeiter, die in den Städten die Grundstücke dekontaminieren. Die Anwohner sind mit der Arbeit nicht zufrieden. Denn die Reinigung erfolgt durch Tagelöhner, nicht durch ausgebildete Spezialisten. Zudem hat die japanische Regierung die Grenzen für die maximale Strahlendosis längst landesweit angehoben. Schulkindern sei demnach nun eine jährliche Belastung von bis zu 20 Millisievert zuzumuten. Das entspricht der Dosis einer Ganzkörper-Computertomographie. Tepco-Mitarbeiter dürfen statt 100 nun bis zu 250 Millisievert pro Jahr ausgesetzt sein. Die Erhöhung der Grenzwerte geht auch an den Dekontaminierungsmaßnahmen nicht vorbei. Ian Thomas Ash spricht mit Arbeitern, die Häuser von radioaktivem Schmutz befreien. Sie sprechen von einem riesigen Aufwand. Anfangs sollte die Strahlung auf Privatgrundstücken auf weniger als 0,2 Millisievert gesenkt werden. Nach einiger Zeit wurde diese Zahl auf 1 Millisievert erhöht. Der Grund: Kosten sparen. Das hochverschuldete Land verliert Monat für Monat Millionen durch die abgeschalteten Reaktoren; die Aufräumarbeiten werden noch circa 40 Jahre andauern, die Kosten dafür in und um Fukushima belaufen sich Schätzungen zufolge auf etwa 500 Milliarden Euro.
All dies geht zu Lasten der Menschen in Fukushima. Die müssen nicht nur mit mangelhaftem Informationsfluss, sondern auch mit unzumutbaren Zuständen leben. Verstrahlter Dreck wird nicht weit der Stadtzentren zwischengelagert, denn ein Endlager gibt es nicht. Die Regierung dekontaminiert Spielplätze und Schulgelände, hängt voller Stolz Zettel an die Wände, welche die niedrige Strahlung bestätigen sollen. An den Grenzen der Schulhöfe jedoch stehen Absperrungen. Hier ist die Radioaktivität noch heute um ein Vielfaches höher als erlaubt. Doch die Anwohner sind ja gewarnt – wer Warnschilder ignoriert, ist selbst schuld. Wer seine Kinder draußen spielen lässt, muss mit Konsequenzen rechnen.
Nach der Katastrophe wurden Kinder aus Fukushima Schilddrüsenuntersuchungen unterzogen. Eine Mutter, die Ian Thomas Ash trifft, erzählt von verfälschten Ergebnissen. Nachdem die lokale Klinik ihr Kind für völlig gesund befand, holte die Mutter eine zweite Meinung aus einer Privatklinik ein, die Zysten in der Schilddrüse ihres Sohnes feststellte. Als der Ansturm auf die Privatkliniken zu wachsen begann, wurde diesen untersagt, weitere Schilddrüsenuntersuchungen durchzuführen.
Die Situation in der Region ist katastrophal. Untersuchungen der Langzeitfolgen von Tschernobyl ergaben, dass in den ersten vier bis fünf Jahren nach der Kernschmelze vermehrt Krebsfälle auftraten – eine Zeitspanne, die auch Japan nun erreicht. An dem Wiedereinstieg in die Atomkraft hält die Regierung dennoch fest.
Das Projekt „Hilfe für Japan“ organisiert seit 2011 Reisen für Kinder aus der Region Fukushima in das 2000 Kilometer entfernte Okinawa, eine Inselgruppe im Süden des Landes. Rund 850 Kindern wurde auf diese Weise ein Sommerurlaub fernab der verstrahlten Gebiete ermöglicht. „Die Kinder können sich draußen austoben und müssen nicht drinnen sitzen“, erklärt Yoko Schlütermann, Initiatorin des Projektes. Auch in diesem Jahr ist die Reise in den Süden mit etwa 100 Kindern geplant. Damit kann Fukushima nicht schneller wiederaufgebaut werden – doch jedes Jahr verbringen so Kinder ihre Sommerferien an einem sorgenfreien Ort. Und das haben sie verdient. Denn sie sind nicht schuld an der Situation und leiden doch am meisten darunter.
Ian Thomas Ash isst mit einer Familie ihr Frühstück. „Was wünscht ihr euch für die Zukunft?“, fragt er die beiden Kinder. Die müssen nicht lange überlegen. „Dass Fukushima frei von Strahlung ist“, antwortet das kleine Mädchen. Ihr großer Bruder nickt. „Nicht nur Fukushima, die ganze Welt.“
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