trailer: Frau Finner, wozu braucht man Witten?
Christiane Finner: Als ich vor Jahren nach Witten kam, habe ich mich zuerst total verfahren. Inzwischen bin ich hier heimisch geworden. Man hat hier die Anbindung an Bochum und an das Ruhrtal. Witten bietet Industriekultur im Grünen.
Erklären Sie doch bitte mal einem Unwissenden, was die Wittener Werkstadt ist.
Wir befinden uns in einer alten Verladehalle der Firma Mannesmann, die noch den Charme einer alten Industriehalle ausstrahlt. In die Halle sind mehrere Häuser gebaut, die vielfältig genutzt werden. Die Wittener WERK°STADT zählt, quer durch alle Generationen und Schichten, 90.000 Besucher im Jahr und ist ein klassisches Soziokulturelles Zentrum. Wir machen aber auch offene Jugendarbeit und haben als Jugendkunstschule einen kulturpädagogischen Schwerpunkt.
Ich darf eher ihre geriatrische Abteilung besuchen?
Bei unseren Ü-50-Partys sind Sie natürlich willkommen. Aber auch viele von unseren kulturellen Veranstaltungen werden von älteren Menschen besucht. Beim Familiensonntag treffen sich hier alle Generationen: Da kommen Omma und Oppa, Mütter, Väter und natürlich Kinder.
Vertragen sich die verschiedenen Kulturen?
Hier ja. Die WERK°STADT ist im allerbesten Sinne ein echter Gemischtwarenladen mit einem spartenübergreifenden Kulturangebot. Für Vierjährige bieten wir Englischkurse, die mit Trommeln begleitet werden. Während die Jugend einem abgefahrenen Ska-Konzert lauscht, tanzen deren Eltern vielleicht bei der Silver-Party.
Haben Sie den Anspruch, Multikulti anzubieten?
Multikulti ist bei uns kein Anspruch von oben, sondern gewachsene Struktur. Wir haben viele Mitarbeiter mit Migrationshintergrund: Kursleiter, Dozenten, Künstler, Zivildienstleistende… Aber auch hinter der Theke und an der Garderobe arbeiten Menschen aus verschiedensten Herkunftsländern.
Städtische Einrichtungen haben manchmal den Ruf, dass von oben etwas geplant wird und dann kommt keiner.
Zunächst: Wir sind keine städtische Einrichtung, sondern werden von einem Verein getragen. Dabei haben wir einen partizipativen Ansatz, versuchen, unsere jugendlichen Besucher, Praktikanten und Azubis mit Projektverantwortung auszustatten. So wachsen hier immer wieder neue Generationen in der Programmplanung nach. Unsere Gäste sollen nicht nur konsumieren, sondern mitgestalten. Wir bieten zum Beispiel speziell für Jugendliche die Talentbühne „Gehacktes“, eine wilde Mischung roher Elemente, an. Auf der Bühne probieren sich – oft das erste Mal – Bands, Kleinkünstler und auch bildende Künstler aus.
Weht die Geschichte des Hauses noch durch die WERK°STADT? Sie schrieben sich ja früher mit Doppel-T. Die Wittener Werkstatt war mal eine besetzte Fabrik.
Natürlich haben wir noch ältere Besucher, die von den wilden, alten Zeiten schwärmen. Ich hoffe aber, dass es wild bleibt und wir auch mit Experimenten in der Programmgestaltung weiterhin unsere Gäste begeistern.
Kann man sich so einen Gemischtwarenladen wie die WERK°STADT auch in Hamburg vorstellen oder ist das typisch für das Ruhrgebiet?
In der Form ist die WERK°STADT wohl in Hamburg nicht vorstellbar. Während sich zum Beispiel Kampnagel speziell auf Tanz ausrichtet, hat die WERK°STADT kein spezifisches Profil. Wir arbeiten gewollt spartenübergreifend. Wir bieten Workshops für Literatur an, für Illustration, für Theater und Film. Politische Aussagen finden in der kulturpädagogischen Arbeit Ausdruck, zum Beispiel in Klangcollagen wie im Projekt Bandbreite. Die Mischung ist unser Geheimnis. So etwas habe ich in Hamburg an einem Ort nicht erlebt. Hier funktioniert Leben und Leben lassen. Auch auf unseren Silver-Partys finden Sie das ganze Spektrum vom Bildungsbürger bis zum „Berufsjugendlichen“. Manche tanzen barfuß, andere haben sich hübsch gemacht, kommen auf hohen Hacken hereinspaziert. Alle tanzen fröhlich durcheinander.
Ü-Partys gibt’s doch inzwischen auf jedem Dorf?
Unsere Ü30 Party gibt es seit 20 Jahren jeden Mittwoch – ist also ein echter Klassiker. Mit der Silver-Party waren wir in der Region recht früh am Start und haben mit dem DJ Ruud van Laar jemanden, der dieses Format auch glaubwürdig etabliert. Aber auch andere Tanzveranstaltungen sind bei uns erfolgreich. Wenn wir Tango anbieten, dann machen wir das mit jemandem, der aus dieser Szene kommt. Oder Lindy Hop – eine völlig akrobatische Art Swing zu tanzen. Diese Leute können richtig feiern und freuen sich, wenn sie sich in unserem großen Saal austoben können. Wir haben auch eine riesige Metal-Szene in der WERK°STADT. Die Leute sehen zwar böse aus, hören aber gute Musik. Alle zusammen prägen dann die bunte Gästemischung unserer Ü-Partys und dies macht sie so besonders.
Wie unterscheiden Sie sich von kommerziellen Anbietern?
Natürlich leben wir auch von den Einnahmen aus Vermietung und Gastronomie. Aber wir stellen auch mal für einen Euro einen Saal für Künstler aus der freien Szene zur Verfügung. Die bringen sich hier ein mit ihrem Netzwerk und ihrer besonderen Kompetenz.
Welcher Wind weht vom Rathaus? Sind die Ihnen wohlgesonnen?
Ich denke schon. Sonst hätten uns Politik und Verwaltung nicht das neue Jugendcafé Treff° anvertraut. Die WERK°STADT mit den fast 35 Betriebsjahren ist ein bisschen der Dinosaurier und plötzlich kommt der Treff° mit Jugendlichen, die sagen: „Hey, in die WERK°STADT gehen meine Eltern. Ich will was Eigenes gestalten.“
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