trailer: Herr Meyer, die Welt geht gerade unter, geht das Theater mit? Berthold Meyer: Haben wir nicht vor, allerdings sind die Halbwertszeiten der Meldungen, die uns erreichen, so niedrig, dass es einem Theater sowieso nicht möglich ist, darauf spontan zu reagieren. Wenn ich ehrlich bin, ist das Theater, auch das freie Theater, momentan nicht die kulturelle Vermittlungsform, die ganz am Puls der Zeit ist. Da kommt eine gewisse Masseträgheit durch, die es nicht gerade zu einem Medium macht, das auf tagespolitische Ereignisse reagieren kann. Mit Verzögerung werden die Ereignisse dieser Tage natürlich auf die Bühne kommen.
Aber in Krisenzeiten sind die Kirchen und Theater eher besser besucht.
Das habe ich so noch nicht bemerkt. Ich glaube auch nicht, dass die Menschen heutzutage wieder in Kirchen und Theater stürmen, sondern eher in die Event-Tempel, die ja irgendwie eine Mischung aus Theater und Kirche darstellen.
Deutschland sucht den Superstar?
Es muss nicht unbedingt DSDS sein, auch niveauvollere Angebote sind sehr gefragt. Event ist ein totgerittener Begriff. Ein Event muss aber persé nichts Schlechtes sein, repräsentiert aber nicht die klassische Form von Theater. Aber ich weiß nicht, ob diese klassische Form überhaupt noch – zumindest für freie Theater – relevant ist. Ich höre bei Ihnen die Frage des Bildungsbürgers nach dem sozialen Anspruch des Theaters heraus. Diesen Anspruch kann ich heutzutage im Freien Theater nicht entdecken, weiß auch nicht, wer ihn versteckt hat und wo er versteckt ist.
Das große Theater verortet man eher in Bayreuth oder Berlin, also in den Idyllen oder Metropolen. Wie geht es Ihnen im Dortmunder Norden?
Wir sind eine Metropolenidylle. Eine Idyllenmetropole? Ich habe große Bauchschmerzen bei dem Begriff Metropole – ein furchtbarer Begriff. Das Ruhrgebiet ist weder Metropole noch Idylle, vielleicht ist es wirklich die Melange daraus. Speziell der Dortmunder Norden ist sicher nicht das Biotop, aus dem das Freie Theater ernährt wird. Allerdings wird in vielen Großstädten Kreativität nicht mehr in den reichen Stadtteilen angesiedelt, sondern in denen, in denen das sogenannte wahre Leben pulsiert. Es gibt eine große Szene an Kreativen in der Nordstadt. Der junge Kreative, der erfolgreich ist, geht aber dann oft weg von hier. Deshalb sind Institutionen wie wir wichtig, obwohl wir von der direkten Umgebung schon mal als Fremdkörper wahrgenommen werden.
Eving ist für das Theater besser als Gartenstadt?
Vielleicht ist es im Süden der Stadt einfacher, Publikum zu akquirieren. Aber Theater hat eben auch einen gesellschaftlichen Auftrag und deshalb sind wir als Freies Theater in einer Gegend wie dem Dortmunder Norden besser aufgehoben als in der Dortmunder Gartenstadt.
Was wünschen Sie sich von der Politik?
Von der Politik wünsche ich mir nix mehr. In den direkten Gesprächen habe ich erfahren, dass die Politiker nicht böse sind und die wollen einem auch nichts. Die sind mit sich und den Notwendigkeiten und Abhängigkeiten genug beschäftigt. Ich will die da gar nicht weiter unter Druck setzen.
Mehr Geld?
Das ist so ein banaler Wunsch wie Sonnenschein oder Gesundheit. Kann ich mir immer wünschen. Schadet auch nichts. Natürlich brauchen wir Menschen, das können Politiker aber auch ganz normale Bürger sein, die das Theater für wichtig halten.
Kommt nach RUHR.2010 nun wieder der Dornröschenschlaf oder wirkt die vielbeschworene Nachhaltigkeit des Kulturhauptstadtjahres bereits?
Die Nachhaltigkeit besteht momentan aus der Erinnerung. Das Freie Theater war ein bisschen ein Durchlaufposten des Kulturhauptstadtjahres, hat nicht so viel davon profitiert wie die Leuchtturm- Projekte.
Sind Sie neidisch?
Ich habe nichts gegen Leuchttürme, solange sie sich an Küsten befinden, wo ab und zu auch mal ein Schiff vorbeikommt. Ich will mich aber an dem „Bashing“ vieler Freier gegen die Leuchtturmprojekte nicht beteiligen. Ich glaube aber auch nicht an das entweder-oder. Dieses Land ist noch immer scheißreich.
Also wirkt RUHR.2010 nachhaltig?
Was für uns sicher bleibt, sind bilaterale Beziehungen. Es wurde ja von Seiten der Kulturverwaltung ein zumindest unausgesprochener Druck ausgeübt, gemeinsame Projekte zu machen, Netze zu bilden. Bei der Zusammenarbeit von freien und städtischen Institutionen könnte einiges hängen bleiben.
Was machen Sie denn mit den Städtischen Bühnen in Dortmund?
Zurzeit nichts. Das muss aber nicht so bleiben. Wir haben ja jetzt einen neuen Intendanten. Kay Voges arbeitet mit vielen jungen Leuten aus der Freien Szene. Die ästhetischen Grenzen zwischen Städtischem und Freiem Theater verwischen zunehmend. Das wird sich in Zukunft noch verstärken.
Klauen die Städtischen ihre Geschäftsidee?
Das Freie Theater war nie eine Geschäftsidee. Die Entwicklung allerdings begreife ich als eine Chance auch für uns. Besonders aber für das Städtische Theater ist diese Entwicklung eine Möglichkeit auf Erhalt. Diese öffentlich geförderte Theaterlandschaft in Deutschland ist weltweit einzigartig und ein tolles Modell.
Interviewserie „Über Tage“: „Über Tage“ handeln, ohne „unter Tage“ zu vergessen. trailerruhr spricht mit streitbaren Menschen über das Ruhrgebiet.
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