trailer: Herr Heidbrink, ist Kultur in Zeiten der Krise Luxus?
Ludger Heidbrink: Kultur ist und war nie Luxus, sondern sie ist eine existenzielle Notwendigkeit. Der Mensch ist auf Kultur angewiesen. Deshalb sollte man besonders in der Krise nicht darauf verzichten.
Aber wie kann sie finanziert werden?
Schon vor der Wirtschaftskrise gab es Projekte und Einrichtungen, die nicht immer ihren Zweck erfüllt haben. Ich möchte zwar nicht in eine neue Euphorie einstimmen, die man allerorten hört, und die sagt: „Die Krise ist unsere Rettung.“ Aber vielleicht lernen die Geldgeber nun, wie man vernünftiger auswählt und haushaltet, und die Geldnehmer, wie man einen unternehmerischen Geist stärker entwickelt. Der Ruf nach Staatsgeldern kann nicht immer die Lösung sein. Die Zeit ist günstig für einen Kassensturz, um zu überlegen, welche Projekte für die Probleme unserer Gesellschaft sinnvoll sind und welche nicht.
Banken und Industrie werden inzwischen hoch subventioniert, bei der Kultur hingegen ist Sparen angesagt?
Kultur an sich ist nicht marktfähig. Insofern ist es richtig, dass sie subventioniert wird. Es ist falsch, Kultur wie das Produkt eines Wirtschaftsunternehmens zu begreifen. Von alleine ist sie nur begrenzt tausch- und handelbar. Bei der Subventionierung der Wirtschaft hingegen sollte darauf geachtet werden, dass die unterstützten Unternehmen auch tatsächlich marktfähig sind.
Opel wird gerettet.
Diese Art der Subventionen halte ich vom Prinzip her für falsch. Ein Unternehmen, das über Jahre nicht in der Lage gewesen ist, seine Produkte so zu entwickeln, dass sie einen ausreichenden Abnehmerkreis finden, muss notfalls Insolvenz anmelden. In der Automobilbranche gibt es zudem seit Jahren eine enorme Überproduktion.
Jenes Geld könnte auch in die Kulturhaushalte fließen.
Das ist grundsätzlich richtig. Allerdings hat sich im Kultursektor ein gewisser Egoismus breit gemacht. Öffentliche Gelder sind für das Gemeinwohl gedacht. Möglichst viele Menschen sollten etwas davon haben. Manche, die Kulturförderung verlangen, sagen: „Uns steht das Geld zu. Ob es an anderer Stelle besser verwendet werden kann, ist uns egal.“ Dieses Kirchturmdenken lässt sich gerade bei Kulturschaffenden, die sich ansonsten hehren Zielen der Menschheit, der Moral und der Aufklärung verschreiben, beobachten. Wenn es um ihre eigenen Finanzen geht, sind sie oft genauso rücksichtslos wie manche Wirtschaftsakteure, denen sie Habgier und Gewinnstreben vorwerfen.
Man spielt lieber einen Brecht auf der Bühne, als dass man ihn lebt?
Genau. Es werden moralische Maßstäbe hochgehalten, die man in der Praxis selbst nicht immer umsetzt. Theater und Oper müssen heute wie viele andere öffentliche Einrichtungen mit weniger Geld auskommen. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als innovative Ideen zu entwickeln, wie man mit geringeren Mitteln mehr Qualität erreicht.
Viele Menschen sehen lieber eine Casting-Show als eine Oper. Muss man nicht mehr Kultur für die Masse machen?
Das halte ich für eine falsche Strategie. Es gibt viele Menschen, die man mit einer Wagner-Aufführung nie erreichen wird. Wenn Oper oder Theater politische Ideen auf die Bühne bringen, dann sollten sie die Entscheidungsträger ansprechen, die Veränderungen im Land bewirken können.
Also ein Theaterstück für Angela Merkel?
Ja, oder für Josef Ackermann. Dann würde man eher etwas bewegen. Von den politischen und wirtschaftlichen Eliten hängt es mit ab, ob wir Wege aus der Krise finden werden und in Zukunft neue Krisen vermeiden können.
Macht es Sinn, dass es eine Kulturhauptstadt in Europa gibt?
Die Idee ist gut. Ich finde es auch wunderbar, dass Essen und das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt geworden sind. Ich beobachte aber, dass noch viel daran gearbeitet werden muss. Ich wohne in Berlin und erlebe durch diese Außensicht, dass man vielerorts nicht weiß, dass das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt ist. Und wenn Menschen wissen, dass das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt ist, dann wissen sie oft nicht, wo es liegt. Daran muss gearbeitet werden.
Was ist die Ursache für diese Wahrnehmung?
Viele Menschen im Ruhrgebiet sind sehr stark in ihrer Region verwurzelt Das Ruhrgebiet hat einen sehr autarken Charakter. Man lebt und bleibt gerne hier. Die Mobilität ist eher gering. Gleichzeitig regt man sich darüber auf, dass niemand das Ruhrgebiet kennt. Darüber darf man sich aber nicht wundern, wenn man nicht aus dem Dorf rauskommt. Wer sich versteckt, wird nicht wahrgenommen. Insofern ist es sehr gut, dass das Ruhrgebiet nun Kulturhauptstadt ist.
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