So einfach ist das mit dem Verschwinden heute nicht mehr. Die Überwachung der Körper ist ziemlich lückenlos geworden, wer heute verschwindet, der taucht meist auch nicht mehr auf, wahrscheinlich könnte er es auch nicht. Der Hartware MedienKunstVerein (HMKV) in Dortmund hat sich diesem Phänomen angenommen und zeigt im sechsten Stock des Dortmunder U die von den Polen Robert Rumas and Daniel Muzyczuk kuratierte Ausstellung „Gone to Croatan“, die Ende 2009 im Centre of Contemporary Art ‘Znaki Czasu’ im polnischen Torun realisiert wurde. Es geht hier nicht um Gespenster, aber um Geister, nicht um das lustvolle Finden, aber um das kunstvolle Weggehen. Eine Anleitung dazu liefert Susanne Bürner (DE) mit ihren Künstlerbüchern „Wie man in China und Amerika spurlos verschwindet“ (2006 und 2010). Das Verschwinden begreift sie als aktive, bewusste Entscheidung. Ausdrücklich soll das kein Aufruf zu kriminellen Handlungen sein.
Die Ausstellung ist ein theoretischer und visueller Knaller meist osteuropäischer Avantgarde-Medienkunst, bei der die Strategien des Verschwindens ohne Schwindel auskommen, selbst bei einer mechanischen Puppe namens Jan wird das winzige Kabel nicht versteckt. Sie gehört zur Installation von Sebastian Buczek (PL), der Schallplatten aus Glas und Holz mit Wachs oder Schokolade überzieht, damit sie sich beim Abspielen auflösen. Eine Konzert-Performance von ihm wird da zum einmaligen Erlebnis. Wie sich die Dinge verselbstständigen können, sieht man bei Bas Jan Ader (NL). Der Pantomime fiel 1970 in L.A. für den Film „Fall 1“ kunstvoll vom Dach. Er verschwand 1975 bei einer Kunstaktion, für die er mit einem vier Meter langen Segelboot den Atlantik überqueren wollte. Sein Verschwinden wird als letzte große Arbeit des Erfinders der Gravitationskunst, oft als vorsätzliche Handlung, gewertet. Punkt um, er gilt als verschollen.
Fast 30 Verortungen im Unsichtbaren sind in Dortmund zu erleben. Schon der Titel ist ein Mythos: Die ersten europäischen Siedler in der Neuen Welt verschwanden auf mysteriöse Weise und hinterließen ihre Siedlungen sowie eine Notiz mit den Worten „Gone to Croatan“. Die Croatan waren ein indianisches Volk, das in der Nähe lebte. Wurden sie nun umgebracht oder gingen sie in eine andere Dimension. Der Fall beschäftigt bis heute. Ganz anders ist der französische Künstler Eduard Buridan mit seinem Leben umgegangen, der mit Collagen aus Landkartenstücken zu sehen ist. Ihm war Mitte der 1960er die neodadaistische Situationistische Internationale nicht radikal genug. Er erklärte sich zum Einzigen Künstler des Topismus und verschwand. Jahrzehnte später fand man nach seinem Tod Aufzeichnungen, die die Bedeutung des Begriffs erklärten. Er war vom Künstler zum Bigamisten geworden, lebte als Aktion unentdeckt ein Doppel- und sogar Dreifachleben gleichzeitig.
Ebenso ein radikal-anarchischer Knaller ist der Pole Jacek Kryszkowski, der 1983 mit einem Kindergewehr auf den berühmten Künstler des Landes Tadeusz Kantor schoss. Von ihm steht in Dortmund ein weißer Kindersarg, mit seinen Geburts- und Todesdaten. Dass er die Daten um 20 Jahre überlebte, zeigt, dass es einst kein Spiel mit dem Schicksal war, sondern der dadaistische Ausdruck für allgemeine Unbestimmtheit. Bestimmt wollen alle nun diese Ausstellung sehen, bevor sie langsam verschwinden und unscharf werden im Nebel der Gesellschafts-Kunst.
“Gone to Croatan – Strategien des Verschwindens” I Bis 14.8. I Dortmunder U
0231 496 64 20
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