Arbeit stinkt, Arbeit ist scheiße. Pasolinis Figur Accattone sieht das auch so. Er lügt und stiehlt, zwingt Frauen in die Prostitution und predigt Zwietracht. Er und seine Gefährten definieren sich nicht durch Besitz, Status oder gesellschaftliche Funktion.Pier Paolo Pasolinierblickte deshalb in diesem „Subproletariat“ das Potenzial für eine gesellschaftliche und politische Neuordnung. Triennale-Chef Johan Simons startet das dekadente Ruhrpott-Festival im August mit einer inszenierten Melange aus Anarchie und Johann Sebastian Bach. Schon das Plakat sorgte für Murren in Städten, wo Urbanität immer noch mit uralten Seilschaften und Darmkanälen gestaltet wird. Also reicht es für 120 Tage Sodom schließlich immer noch in der zum ersten Mal bespielten Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken. Ach!
Gleichzeitig entsteht vor der Jahrhunderthalle Bochum die außergewöhnliche Großinstallation „The Good, the Bad and the Ugly“. An einem Ort, an dem über 130 Jahre lang Tausende von Arbeitern Stahl gekocht, gewalzt, geschmiedet und gehämmert haben (nur mal so nebenbei: mein Opa und viele andere starben dort deshalb auch), will das niederländische Atelier Van Lieshout jetzt mal wieder einen aufregend-chaotischen Ort für Besucher schaffen. Im Zentrum steht eine Gebäudeskulptur, das „Refectorium“. Umgeben ist das von neuen Installationen wie dem „Domesticator“ und ikonografischen Arbeiten wie der „BarRectum“, dem „Workshop for Weapons and Bombs“, dem „Workshop for Medicine and Alcohol“ und schlussendlich „The Heads, Claudia & Hermann“. Was immer das auch heißen mag: Bomben-Workshop. Politik und Sex sind jedenfalls ein wiederkehrendes Motiv der Rotterdamer Kunstchaoten, die auch gewöhnliche Bürger an ihren Projekten teilhaben lassen. Mit einem Betrag von schlappen 10.000 Euro ermöglichen Sie, lieber Leser, den Bau einer Datscha und sind dann Datscha-Pate. Die erhält ein Türschild mit Ihrem Namen oder Firmenlogo. Übernachten Sie nach dem Kulturgenuss in Ihrem Kunstwerk: Während des Festivals steht Ihnen Ihr Haus 12 Tage und Nächte für private Zwecke zur Verfügung. Für Johan Simons ist das alles kein Widerspruch: „ Wir wollen die Annäherung an die Bewohner des Ruhrgebiets suchen, auch an Arbeiter und Arbeitslose.“ Jawoll.
Und deshalb geht alles in Dinslaken auch erst einmal mit einer Debatte los. Kurz erinnern: Arbeit stinkt, Arbeit ist scheiße. Arbeit braucht kein Mensch, der Mensch braucht nur Geld. Das ewige Cohn-Bendit-Zitat. Einer der profiliertesten Denker unserer Zeit sieht das wohl anders. Seine Aufsätze zur „Müdigkeitsgesellschaft“ und zur „Transparenzgesellschaft“ sorgten international für Aufsehen und beeinflussen aktuelle gesellschaftliche Debatten. Mich hat Byung-Chul Han jedenfals noch nicht erreicht. Aber für die Ruhrtriennale wird er über den Zusammenhang zwischen Kunst und Hoch-Zeit, zwischen Kunst, Fest und Leben nachdenken, von irgendwas muss der Mensch ja auch leben!
Ruhrtriennale | 14.8.-26.9. | www.ruhrtriennale.de
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