Kurz vor Beginn der Veranstaltung „Skandal! Fake! Hysterie! – Gefährdet die Dauererregung die Demokratie?“ wandere ich die Treppe hinauf zum Eingang des Grillo Theaters, als ich jäh gebremst werde – von einem Mann in schwarz. Auch Erläuterungen wirken nicht. Ich, der Schreiberling, könnte jemand sein, der sich einzuschleusen sucht. Das Personal hat das Thema ‚Fake‘ bereits verinnerlicht.
Kein Bistro-Stuhl ist mehr frei im kleinen Saal des Grillo Theaters in Essen. Die Zuschauer warten gespannt auf den Beginn der Talk-Runde der Deutschlandfunk Lesart. Was man sonst aus dem Kino kennt, wird hier ebenso gefordert: „Schalten Sie bitte Ihre Handys ab, bevor wir beginnen.“ Das Publikum gibt ob des Themas unisono seine stumme Zustimmung. Auf dem Podium sitzen Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen und Michael Steinbrecher, Professor für Fernseh- und Crossmedialen Journalismus am Institut für Journalistik in Dortmund zusammen mit Andreas Tyrock, Chefredakteur der WAZ sowie Moderator Christian Rabhansl vom DLF Kultur.
Das Problem mit der Dauererregung: „Ein Attentat in Florida erreicht uns sofort“, so Pörksen. Wir als Nutzer von social media sind direkt in medias res, ob wir wollen oder nicht. Ein digital detox könnte da helfen, oder nicht? Der Medienwissenschaftler hält diese Idee für eine „lächerliche Fantasie“. Man müsse seiner Meinung nach den Umgang trainieren, um medienmündig zu sein. Auch Steinbrecher wiegelt bei dem Thema ab. Einige seiner Studenten hätten es probiert, „von ihnen wird aber erwartet, dass sie sich im digitalen Raum zurecht finden“, so der Journalist. Wenn sie also social media nicht bedienen können, hat das Auswirkungen.
„Die Vernetzung ist ein ambivalentes Moment“, führt Pörksen weiter aus. Sie kann „Giftzwerge“ hervorbringen, ebenso wie solidarisch organisierte Gruppen. Das habe auch die journalistische Arbeit grundlegend verändert, skizziert er. Was früher „durch den Journalisten für den Leser vorgefiltert“ wurde, dazu hat die Öffentlichkeit heute direkten Zugang.
Ferner kann Identität im Internet verschleiert werden. „Im Netz weiß niemand, ob du ein Hund bist“ – die prominente Bildunterschrift eines Cartoons von Peter Steiner aus dem New Yorker 1993 nutzt der Medienwissenschaftler exemplarisch, um daran die derzeitige Wahrheitskrise zu erläutern. „Die Informationsräume, in denen wir kommunizieren, haben sich verändert,“ führt es Steinbrecher aus. Das erschwert die Rückverfolgbarkeit von Identitäten und macht Betrug im virtuellen Raum leichter möglich. Noch fehlen sinnvolle Instrumente der Kontrolle. Bislang kann sich jeder eine Seiten-Domain sichern, ohne dass seine Identität zweifelsfrei geklärt wird. Eine rechtliche Grauzone.
Auch „die Reputation ist im digitalen Zeitalter angreifbarer, denn je“, so Pörksen. Lindsey Stones aus den USA wäre ein dazu passendes Beispiel. Sie zeigte auf einem Veteranenfriedhof den Mittelfinger und ließ sich dabei ablichten. Was als Spiel mit ihrer Freundin begann, hatte üble Konsequenzen. Ein Jahr musste sie sich vor wütenden Veteranen verstecken. Der Medienwissenschaftler resümiert: Wo man früher tief fallen musste, reiche heute oft schon eine Kleinigkeit. „Wir hinterlassen mit unseren Daten Spuren im Schnee, nur, dass der nicht mehr schmilzt“, benennt es Steinbrecher.
Fake News wären ein Thema für sich, da sich hierbei die Ausgangssituation kolossal verändert. Pörksen paraphrasiert es anhand eines Zitats von Thomas Mann: „Ich kann mich nicht mit einem Mann an den Tisch setzen, der plötzlich behauptet, der Tisch, an dem wir sitzen, sei kein Tisch, sondern ein Ententeich.“ Bei Fake News müsse man sich die Frage stellen, ob hier noch über denselben Sachverhalt gesprochen werde.
Kritisch hinterfragen sollte man auch, warum Facebook-Chef Marc Zuckerberg eher seinen Sicherheitschef Alex Stamos entlässt, anstatt für Nutzer-Transparenz zu sorgen, so Tyrock. Sicherheitschef Stamos hatte sich dafür eingesetzt, offener über die russische Einmischung in den amerikanischen Präsidentenwahlkampf zu informieren.
Einig sind sich alle bei der Frage nach der Qualität im Journalismus. Das Dramatische: „Wenn’s schnell gehen muss, greifen wir auf unsere eigenen Vorurteile zurück“, so Pörksen. Und die sind mitunter nicht der beste Ratgeber für eine qualitative Berichterstattung. Der Chefredakteur der WAZ bringt es auf den Punkt: Es kommt nicht darauf an „der erste zu sein, der die Nachricht hat, sondern der erste, der sie richtig hat“. Auch Steinbrecher ist der Ansicht: Qualitätsjournalismus müsse sich Zeit lassen.
Die Talk-Runde ist in ihren Reaktionen gemäßigt und die einzelnen Akteure reagieren wohlüberlegt. Kritische Fragen kann der Moderator passgenau platzieren. Einzig Michael Steinbrecher wird zeitweise energisch. Ihm ist es ein inneres Anliegen, dass der Einzelne kritisch seine Bequemlichkeit hinterfragt und seine Daten nicht jedem zur Verfügung stellt, Stichwort „selbstfahrende Autos“. „Denn derjenige, der unsere Daten hat, arbeitet auch damit“. Er glaubt, dass die „Effekte der Personalisierung unterschätzt werden“. Um dem gewappnet zu sein, fordert der Journalismus-Professor „ein digitales Bewusstsein“.
Was Fake News sind und wie man sie von konventionellen Nachrichten unterscheiden kann, erfahren wir. Auch, was die Hysterie bedingt. Wir erfahren nicht, wie wir uns schützen oder Fake News sinnvoll enttarnen können – z.B. über die Google-Bildersuche oder mittels bald ausgereifter Programme, die das Forschungszentrum für künstliche Intelligenz in Kaiserslautern (DFKI) gerade für den Privatmann entwickelt.
Die Talk-Runde in voller Länge ist zu hören am 24.3. um 11.05 Uhr beim Deutschlandfunk Kultur.
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