trailer: Dr. Schwalm, wie kann man Farbe denken? Jeder sieht sie doch anders.
Hans-Jürgen Schwalm: Zunächst würde jeder sagen, er sehe Farbe, es geht um das Sehen an sich, das sehende Erleben. Das ist sicher ein Ausgangspunkt bei Kuno Gonschior. Aber er hat sich ja durchaus auch als Farbtheoretiker verstanden und hat es also nicht nur bei dem Erleben belassen. Farbe zu sehen, sollte bei ihm zu einer Erfahrung werden. Etwas zu erfahren heißt auch, intellektuell damit umzugehen. Und dann beginnt man über Farbe nachzudenken. Darüber nachzudenken, was sehe ich denn überhaupt. Denn Gonschior fordert ja heraus. Man sieht ein schwarzes Bild, und da geht man näher und plötzlich erkennt man, dass darunter eine ganz andere Farbe liegt. Dass da noch eine dritte Farbe eingearbeitet wurde. Und dass das Ganze zusammenklingt. Und so fragt der Betrachter sich: Was sehe ich eigentlich, dass ich darauf komme, von einem schwarzen Bild zu sprechen, obwohl es das gar nicht ist? Und schon ist man dabei zu sagen, ich kann eigentlich das, was ich sehe, gar nicht richtig benennen, ich kann nicht sagen, du bist ein Blau, das ist ein Rot. Das kommt zwar alles vor, aber immer wenn ich drauf zugehe, ist es wieder weg und wird etwas anderes.
Als Tapete wären Kuno Gonschiors Arbeiten sogar gefährlich für die Augen, oder?
Es ist nie Tapete, es ist nie Deko. Es ist immer Kunst. Ich meine, seine Bilder sind gefährlich für die Augen. Keine Gefahr, aber sie sind provozierend und auch eine Herausforderung, anders zu sehen. Das begann sehr früh, mit seinen ersten Arbeiten und hat sich bis zuletzt durchgehalten. Wobei er sich eine immer größer werdende Souveränität und auch eine größere Freiheit im Laufe der Jahrzehnte erarbeitet hat. Die ersten Arbeiten waren sehr wissenschaftlich, für „interaction of colour“ war sicherlich Goethes Farbenlehre ein wichtiger Bezug. Damit ist er natürlich auch umgegangen. Aber diese Wissenschaftlichkeit hat er später mit einer großen Nonchalance verwunden oder erweitert.
„Man muss sich Bildern auch hingeben, man muss sie wirken lassen“
Wahrnehmungsphänomene müssen ja erstmal überhaupt wahrgenommen werden. Braucht es dafür Zeit oder geht das Knall auf Fall?
Ich glaube, gute Kunst springt einen immer an, das passiert augenblicklich. Aber dann merkt man, dass dieser schnelle Blick nicht ausreicht. Ähnlich wie der Klappentext bei einem Buch nicht ausreicht, um es zu begreifen. Man muss sich Bildern auch hingeben, man muss sie wirken lassen. Man muss das Auge wandern lassen. Man muss diese körperliche Ergriffenheit auch wieder zurückstrahlen. Man muss mit Bildern in eine Kommunikation treten und auch das leisten Gonschiors Bilder über das Sehen wohlgemerkt: in einen Prozess einzutreten, der Zeit beinhaltet. Man merkt den Bildern dann an, dass sie langwierig entstanden sind. Das ist nicht einfach hingehauen, das sind große, andauernde Prozesse, wenn sich ein Bild langsam aus der Farbe herausformt, bis es dann als gültig und vollendet gelten kann.
Manische Malerei halt.
Er hat zuletzt immer an mehreren Bildern gleichzeitig gearbeitet. Ich denke, das war auch so eine Art Korrektiv, nicht sozusagen in einem Bild zu ersaufen, nicht in Farbe zu ersaufen. Sondern durch die anderen, die daneben standen, die Distanz zu wahren oder das zu kontrollieren, was er gerade gesetzt hat.
„Dann merkt man, wie doch jede Farbe vom Licht abhängt“
Was unterscheidet die gezeigten über 60 Bilder eigentlich inhaltlich?
Die Ausstellung überspannt einen Zeitraum von den späten 1950er Jahren bis in das Todesjahr Kuno Gonschiors 2010. Das sind fünf Jahrzehnte. Das ist ein großer und weiter Bogen. Man merkt auch den langen Atem, den er als Künstler haben musste, wenn das einzige Thema Farbe ist. Es gibt diese frühen, noch von Punkten strukturierten Bilder, die auch mit Leuchtfarben gemalt sind, die wirklich Herausforderungen sind und manchmal optisch bis an die Schmerzgrenze gehen. Wo es um Kontraste, um Komplementärkontraste geht, um das „nicht in Sprache fassen können“, was da zwischen zwei Farben eigentlich passiert. Dann verändern sich die Bilder langsam, auch formal. Sie werden mit der Zeit immer größer, wobei sie immer Bild bleiben und nicht automatisch durch die Größe zum Raum tendieren. Das Malmaterial verändert sich, Farbe wird sehr viel pastoser in den späten Bildern aufgetragen, also es kommen auch andere Techniken hinzu wie Ölmalerei. Er hat dann mit Tempera gearbeitet, zwischenzeitlich mit Acryl. Dann auch von dem Auftrag, also wenn man Farbe dick aufträgt, Relief bildet, kommt noch was anderes hinzu. Licht und Schatten. Plötzlich verdunkelt eine Farbe und das Licht fällt ein und hellt sie wieder auf. Dann merkt man, wie doch jede Farbe vom Licht abhängt. All das ist über die Jahrzehnte in seine Malerei eingeflossen. Damit hat er gearbeitet und versucht, das zu vervollkommnen, ich will nicht sagen, zu systematisieren. Ich glaube, diese Systematisierung hat er verinnerlicht im Laufe der Jahrzehnte, hat sich aber auch davon freigemacht und die Farbe dann ganz anders erzählt, scheinbar unsystematischer.
Kann man die Ausstellung Retrospektive nennen?
Ja, könnte man sagen, aber unsere räumlichen Möglichkeiten sind begrenzt. Es sind insgesamt 67 Bilder, die wir zeigen, und wir müssen uns leider in den Formaten etwas beschränken. Das liegt an den räumlichen Gegebenheiten. Nicht an der Größe der Räume selbst, aber die Zugänge zu den Räumen sind so, dass wir bestimmte Formate nicht ins Haus bekommen. Bei zwei mal drei Metern, was ja schon ein ordentliches Format ist, ist bei uns eine Messlatte gesetzt.
Könnte man heute mit einem Computer nicht viel exakter in einem Kuno-Gonschior-Farbraum arbeiten als er es seriell mit dem Pinsel konnte?
Es geht nicht nur um Programmatik. Es geht vor allem um etwas, wovon diese Bilder essentiell leben. Das ist ihre Sinnlichkeit. Ich glaube nicht, dass man Sinnlichkeit so über den Computer erzeugen kann, wie es der Maler im Dialog mit seinem Material, mit seiner Leinwand tut.
Kuno Gonschior – Farben sehen | 20.9.- 15.11. | Kunsthalle Recklinghausen | 02361 50 19 35
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