Eines muss man Schirra lassen: Er hat eine feste Meinung und vertritt sie auch. Das ist heutzutage selten, bei sensiblen Themen wie der viel diskutierten Islamisierung der westlichen Welt und dem ISIS-Terror ist diese Sicht der Dinge aber vielleicht zu starr.
Im Januar 2015 erschien Schirras Buch „ISIS – Der globale Dschihad. Wie der ‚Islamische Staat‘ den Terror nach Europa trägt“. Darin schildert er seine Eindrücke und Erlebnisse der Reise in die Krisenregionen des Iraks und Syriens. Trotz des hohen Risikos schaffte er es, mit zwei deutschen ISIS-Kämpfern zu sprechen, Abu Ibrahim und Abu Hamza. Letzterer, so Schirra, sei ein kurdischer Schwabe, ausgebildet als Chemiker. Laut Schirras Bericht wolle er chemische Kampfmittel für ISIS entwickeln und „[i]n den Sand hat er bei unserem Gespräch Formeln gezeichnet, für das tödliche Nervengas Sarin“.
Während Schirra berichtet, bekommt man eine kleine Ahnung davon, was der Journalist auf seiner Reise erlebt und erfahren hat. Es ist Krieg, das klingt zwischen den Zeilen hervor, ein grausamer Krieg, voller Gewalt. Schirra erlebte eine, wie er es selber nennt, „Kultur des Todes“. Erst unter Al Kaida und dann unter ISIS sei die arabische Gesellschaft zusammengebrochen. Seit 35 Jahren, erklärt Schirra, würden die Menschen in diesen Gebieten nichts anderes als Tod und Krieg kennen, das „ehemals arabische Licht des ‚dunklen Westens‘ ist selbst zum Dunkel geworden“. Unzweifelhaft seien es die Schritte des Westens gewesen, die diesen Prozess beschleunigt, aber nicht verursacht hätten. Die These Schirras, Europa und die gesamte westliche Welt seien dem Krieg ausgeliefert und ihm nicht gewachsen, macht Angst. Eine Lösung, betont der Journalist weiter, könne es nur geben, wenn sie aus der arabischen Welt heraus komme. Dabei sei Selbstkritik der erste Schritt zur Heilung. So weit, so gut.
Man möchte es Schirra zugute halten, dass er selbst vor Ort war und das tat, was nur wenige westliche Journalisten wagen: In ein Gebiet vorzudringen, das vom Terror, von der Angst und von Tod geprägt ist. Doch gerade das sollte zu einer Blickrichtung führen, die nicht von Eurozentrismus geprägt ist. Schirras Ansätze sind plausibel, wenn er sagt, die Antwort könne nur aus der islamischen Welt selber kommen. Sie scheinen differenziert, wenn er behauptet, Europa sei vom Terror bedroht und nicht von einer Religion. Schirra stellt anschaulich dar, dass ISIS eine gut strukturierte und finanziell abgesicherte Organisation ist und staatlich gefördert wird. Unter anderem auch durch den türkischen Staat und desse Präsidenten Erdogan, laut Schirra ein bekennender Islamist.
Brüchig wird seine Argumentation, wenn ‚weiche Faktoren‘ ins Spiel kommen und damit ist insbesondere die Religion gemeint, der Islam und der Koran, die ISIS eine Legitimation verschaffen. An dieser Stelle verliert Schirra seine klare Struktur. Ihm entgeht, dass die Religion eines der Bestandteile von Gruppen- oder Staatenbildungsprozessen ist, was umso deutlicher in Ländern wird, in denen es keine Trennung von Staat und Religion gibt. Schirra lässt außer Acht, dass es zum Radikalisierungs- und Abgrenzungsprozess einer Gruppierung wie ISIS gehört, sich religiöser Motive zu bedienen, um Anhänger zu rekrutieren und ein Feindbild zu schaffen.
So hebelt Schirra seine eigene These aus, indem er sich zu sehr auf die religiöse Grundlage und die Legitimierungsfunktion, die der Islam für ISIS hat, beruft, während er die Argumentation um den terroristischen Gehalt, das heißt die Gewalt um der Gewalt willen, ignoriert. Aus diesem Grund erscheint dann auch Schirras vertretener Lösungsansatz unglaubwürdig, dass eine Veränderung aus der arabischen Welt heraus kommen muss: Veränderung ja, aber bitte nicht nach islamischen Werten, denn, wie der Journalist mehrmals während der Diskussion betont: „Mein Standard ist der Richtige“. Damit ist der westliche Standard gemeint. Mehr Eurozentrismus geht tatsächlich nicht.
Es gibt keine einfache Lösung für die Beseitigung von ISIS und die Entwicklungen in der arabischen Welt. „ISIS muss vernichtet werden und das mit Krieg“, doch selten lassen sich Ideen durch kriegerische Auseinandersetzungen töten. Es wäre ein Fehler, westliche Werte und westliche Freiheit auf eine Welt zu übertragen, die vollkommen anderes strukturiert ist und deren Ideale nicht schlechter, sondern einfach nur anders sind als unsere.
Schirra hat mit seinem Buch einen wertvollen Beitrag zur Diskussion um ISIS und die Zukunft Europas und der Welt geleistet. Wünschenswert wäre aber ein Diskurs, der nicht einseitig und mit Scheuklappen durch die westliche Brille geführt wird, denn wie Schirra richtig bemerkt: „Die Lösung liegt in der arabischen Welt. Aus ihr muss die Veränderung kommen“. Verliert man diesen Ansatz aus den Augen, kann tatsächlich das passieren, was Schirra in der Diskussion mit Abu Hamza erfuhr: „Du [als Journalist] bist ein nützlicher Idiot für mich, denn ich erzähle dir, was ich denke und du transportiert es und erzeugst Angst und Lähmung“.
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