Mal ehrlich: Hat man ihn in den vergangenen Wochen noch wahrgenommen, den Agrarökonomen, der im Märzen seinen 300-PS-Ackerschlepper mit Dreipunkthydraulik und klimatisierter Fahrerkabine anwirft? Der den Boden pflügt, eggt und anschließend sät? Wohl kaum. Was am Ende auf den Tellern des Verbrauchers landet, stammt im besten Fall vom Wochenmarkt, meist muss das Supermarktregal herhalten. Nur ein Bruchteil der Kunden interessiert sich dafür, woher ihr Gemüse stammt – Marokko, ah ja. Und aus welchen Samen es gezogen wurde, hat erst recht kein Verbraucher mehr auf dem Schirm. Sollte man aber.
Ein paar Fakten reichen aus, um eine Situation zu beschreiben, die sich allmählich zum Problem entwickelt hat: Trotz einer augenscheinlich großen Sortenpalette sind drei Viertel der ehemals vorhandenen Kulturpflanzen aus dem Anbau verschwunden. „Wenn wir Glück haben, liegen sie noch irgendwo in Gen-Banken“, hofft Oliver Willing, „wenn wir Pech haben, sind sie ganz weg.“ Von dem, was noch da ist, gehören wiederum 75 Prozent zehn Großkonzernen, die diese Arten als Hybrid-Saatgut verkaufen. Man kann sie nicht aus der Ernte neu pflanzen, sondern muss jedes Jahr neu kaufen. Wenn man so will: eine Form von Kopierschutz. „Diese Saatgut-Grossisten sind oft Chemiekonzerne“, sagt Dr. Susanne Gura. „Kein Wunder, dass die mit Pflanzenschutzmitteln noch mehr verdienen als mit ihren Saaten.“ Geschäftsführer der „Zukunftsstiftung Landwirtschaft“ ist der eine, Vorsitzende des „Vereins zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt“ (VEN) die andere. Beide arbeiten mit durchaus unterschiedlichen Mitteln daran, dieses Problem nachhaltig zu knacken.
Düsseldorf am ersten schönen Frühlingssamstag: Draußen herrscht Biergartenwetter, im Geschwister-Scholl-Gymnasium drängeln sich Hunderte von Gartenfreunden. Dort begegnen sie „Kaiser Wilhelm“, einer historischen Apfelsorte, dem Most von Streuobstwiesen, aber auch weißen und lila Tomaten. Und am VEN-Tisch 18 verschiedenen Kartoffelsorten auf einmal. Wofür braucht man die, wenn doch eigentlich schon die vier Sorten aus dem Supermarkt zu viel sind? „Wissen Sie, wie es Mitte des 19. Jahrhunderts in Irland zur großen Hungersnot kam?“ fragt Gura zurück. „Nun: Als sich die Kartoffelfäule durch einen Pilz ausbreitete, gab es im ganzen Land nur zwei Sorten. Beide waren anfällig.“ Durch den Hunger starb ein Achtel der damaligen irischen Bevölkerung. Was für die Mitte des 21. Jahrhunderts bedeute, dass man eben „die ganze Palette“ brauche, um sieben bis neun Milliarden Menschen zu ernähren.
Die Saatgutschützer treibt also nicht primär ein nostalgisches Interesse. „Alte Sorten sind die Grundlage, aber nicht die Lösung“, verdeutlicht Oliver Willing, der mit seiner Stiftung im Hause der ethisch-ökologischen Bochumer GLS-Bank arbeitet. Heute gebe es andere Krankheiten und Schädlinge, andere Wachstumsverhältnisse, größere Klimaveränderungen. Darum müsse der Mensch Pflanzen durch Züchtung anpassen – quasi als Fortführung der Evolution. Mit den Leuchten einer Pferdekutsche würde man sich heute ja auch nicht nachts auf die Autobahn wagen.
Die Zukunftsstiftung unterstützt deshalb Züchter und Gärtner in Deutschland, die „samenfeste Sorten“ als Gegenentwurf zu den „Hybriden“ weiterentwickeln. Diese müssen für den Öko-Landbau taugen, anderseits widerstandsfähiger sein als ihre Ahnen; die Früchte sollen dennoch Form- und Größenvorstellungen des Handels erfüllen … und obendrein besser schmecken. Kein Wunder, dass die züchterische Optimierung etwa einer Möhrensorte durchaus zehn Jahre dauern kann und eine Million Euro verschlingt. Die Saatgut-Alternativbewegung ist jetzt 30 Jahre unterwegs, rund 120 Menschen beschäftigen sich in Deutschland mit dem Schutz der kulturpflanzlichen Grundlagen. Als Ende der 90er auch der Geschmack nachweisbar die konventionelle Produktion übertraf, war das der Durchbruch. Aus Bochum werden solche Obst-, Gemüse- und Getreideentwickler mit einer Million Euro unterstützt, die jedes Jahr neu über Spenden zusammengetragen werden muss.
Eines der obersten Gebote lautet natürlich: keine Gentechnik! Aber auch anderen Verfahren stehen die Züchter kritisch gegenüber: der CMS-Technik etwa, die die Eigenschaften von Nutzpflanzen über Zellfusionen verbindet. Beispielsweise gibt es in Deutschland so gut wie keine Broccoli- oder Blumenkohlsorte, die nicht via CMS gepimpt wurde. Nach der EU-Öko-Verordnung ist der Einsatz solcher Samen durchaus erlaubt. Die großen Bio-Verbände Bioland, Demeter und Naturland haben dagegen strikte Negativlisten für ihre Erzeuger und Zulieferer aufgestellt. Für sie ist CMS „die Einführung der Gentechnik durch die Hintertür“. Als hätte man nicht schon Sorgen genug, droht das transatlantische Handelsabkommen TTIP die Lage noch schwieriger zu gestalten: „Man kann erwarten, dass die bestehenden nationalen und EU-Gesetzgebungen damit ausgehebelt werden“, sieht Susanne Gura pessimistisch in den laufenden Prozess. „Die WTO will unbedingt Handelshemmnisse ausräumen. Das Verbot von gentechnisch veränderten Kulturpflanzen zählt zu solchen Hindernissen.“
Info: www.saatgutfonds.de | www.nutzpflanzenvielfalt.de
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