trailer: Herr Wessel, werden Ihre Projekte zu RUHR.2010 von der Stadt Bochum ausreichend unterstützt?
Thomas Wessel: Die Christuskirche ist kein Posten im städtischen Etat. Es gibt eine enge Kooperation beim „Platz des Europäischen Versprechens“ von Jochen Gerz, da übersteigen die Sach- und Personalleistungen, die wir für den künstlerischen Prozess erbringen, die entsprechenden Leistungen der Stadt. Unser Programm in der Christuskirche ist aber subventionsfrei, wir sind eine Stadtkirche, keine städtische.
Von den Streichungen im Stadthaushalt sind Sie nicht betroffen?
Das wird sich zeigen. Der Beschluss zu dem Platzausbau als Voraussetzung dafür, dass der „Platz des Europäischen Versprechens“ verwirklicht werden kann, steht noch aus. Ich gehe auch frohgemut davon aus, dass er gefasst wird und wir anfangen, gemeinsam eine Lösung zu suchen dafür, die restlichen Namensplatten zu finanzieren.
Aber auch bei den Kirchen sieht die Haushaltslage nicht rosig aus.
Die Situation, in der die Stadt steckt, kennen wir seit langem, wir sind da eher routiniert.
Mit welcher Intention beteiligen Sie sich an RUHR.2010?
Wir haben die eigentliche Idee für die Kulturhauptstadt aufgegriffen, nämlich die Kultur vom Sockel zu holen und sie in Dienst zu nehmen für einen Zweck, die sogenannte Stadtwerdung. Mit dem Motto „Wandel durch Kultur“ war ja zunächst mal der Wandel eines Gebiets in eine Stadt gemeint, da war keine Rede von Metropole. Unser Projekt „Kirche der Kulturen“ schafft eine Passage der Stadtkirchen von Duisburg bis Dortmund.
Was hat überhaupt Kirche mit Kultur zu tun?
Wir sind Kulturproduzent seit etwa 2000 Jahren. Vor ein paar Jahren hat uns der Deutsche Kulturrat entdeckt und geschrieben: „Die Kirchen – die unbekannte kulturpolitische Macht“. Zum ersten Mal wurde da statistisch erfasst, was die beiden großen Kirchen als Kulturproduzenten leisten: Wir wenden rund 20 Prozent der Kirchensteuereinnahmen und Vermögenserlöse für die Kulturförderung auf. Tolle Quote. Auch in absoluten Zahlen ist das erheblich mehr, als Kommunen, Länder und Bund je für sich leisten.
Den Immobilien, die Kirche genannt werden, geht es im Moment nicht so gut. Die Marienkirche in Bochum wurde bereits 2002 geschlossen.
So ein Wandel muss nicht immer negativ interpretiert werden. Es eröffnen sich immer mehr Schnittflächen zwischen öffentlicher und kirchlicher Kulturarbeit. Aufgabe von Kulturpolitik ist es, Voraussetzungen zu schaffen dafür, dass Kunst entstehen kann.
Es gibt in Bochum einen Unterschied zwischen Christuskirche und Marienkirche?
Wir sind skeptisch, wenn ein Kirchengebäude, das baugeschichtlich nicht sonderlich aufregend ist, mit einem Investitionsvolumen von 12 Millionen Euro in städtische Trägerschaft übergehen soll, um eine Kulturstätte zu machen, in der nicht viel anderes produziert werden könnte als das, was ein paar hundert Meter die Straße abwärts in der Melanchthonkirche und ein paar hundert Meter die Straße aufwärts in der Christuskirche bereits produziert wird. Das wäre eine Konkurrenzsituation, die für uns genauso sinnlos wie chancenlos ist.
Aber die Christuskirche hat doch ein ganz anderes Profil?
Unser Profil ist der Plural. Das Konzept für eine „Kirche der Kulturen“ ist ja nicht nur nach innen gedacht, um deutlich zu machen, dass Kirche Orgel ist und Chormusik und noch viel mehr. Das Konzept ist auch nach außen gedacht, weil es in der Kulturlandschaft nur noch sehr wenige Orte gibt, an denen die Vielfalt gefeiert wird. Es gibt kaum noch Häuser auf den Grenzen, wo man die Sparten wechselt, die Stile, die Milieus. Das ist Luxus, was wir machen, viele Häuser müssen Erwartbares bieten, um über die Runden zu kommen.
Sollte es einen Zusammenhang zwischen der Architektur der Gebäude und dem gezeigten Inhalt geben?
Auf jeden Fall, Kunst entsteht im Kontext von Zeit und Raum, wo denn sonst. Es geht darum, Korrespondenzen herzustellen zwischen Raum und Zeit und dem künstlerischen Gehalt. Das ist die Voraussetzung dafür, dass etwas entstehen kann, was mehr wäre als die Summe seiner Teile. Man sieht das ganz gut an den Entwürfen zur Umgestaltung der Marienkirche, in den meisten ist das Gebäude wenig mehr als eine Hülle, so eine Art Holy-Wood.
Der liebe Gott wird wegrenoviert?
Na ja, die katholische Kirche sagt ja, er sei nicht mehr dort, weil die Kirche entweiht sei. Wir sagen, Gott wohnt nicht in der Kirche, Luther sagte mal, man könne ihm auch im Saustall begegnen.
Wie sähe eine moderne Kirche aus?
Eine, die vielförmig ist. Es gibt noch andere Sozialformen von Kirche als die Ortsgemeinde. So viele Orte, die sich, wenn Menschen der Kunst nachgehen, Gott zu feiern, als Kirche qualifizieren. Das muss nicht immer vorne drauf stehen, es kann ein Krankenhaus sein, eine Bildungseinrichtung oder eben ein Konzert in der Christuskirche. Auch da kann so etwas entstehen wie Gemeinde, eine gemeinsame Idee, eine gemeinsame Erfahrung. Wir nennen es „Gemeinde en passant“.
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