trailer: Herr Selig, was von der Angst des indischen Fotografen Soham Gupta bleibt besonders in den Gehirnwindungen des Betrachters hängen?
Thomas Seelig: Soham Guptas Serie „Angst“ besteht aus 20 Bildern, die wir letztes Jahr erworben haben. Sie sind in der Nacht fotografiert und haben dadurch eine fast dystopische Kraft. Die Situationen, die wir sehen, sind prekär: Gupta hat unter einer Brücke in Kolkata fotografiert und das, was einem hängen bleibt, ist das Gefühl, dass wir dort ein abgründiges Leben sehen – in diesem Fall von einem indischen Fotografen festgehalten.
Ist das unter der Prämisse „je kontroverser desto berühmter“ der gleiche Mechanismus wie Diane Arbus und ihre Randfiguren der Gesellschaft?
Man könnte Diane Arbus als ein prägnantes Beispiel nehmen, wie soziale Aspekte in der Mitte des 20. Jahrhunderts zum Thema geworden sind. Aber das ist so eine Sache. Ihre Fotografien sind anfangs nicht so kontrovers aufgenommen worden, als diese in Magazinen veröffentlich wurden. Soham Guptas Arbeit findet in unserer Sammlung ihren Widerhall, ob das jetzt Boris Mikhailovs Serie „Case History“ oder Gilles Peress` Kriegsfotografien aus Bosnien sind. Deren Fotografien entstehen aus einer humanistischen Haltung, die man gleichzeitig anders lesen kann. Dass sie heute spektakulär und konträrer gelesen werden, ist vielleicht auch ein Zeichen unserer Zeit. Wir versuchen dieses Spannungsfeld in der Ausstellung mit Werken aus der Sammlung zu kontextualisieren und abzufedern.
Viele der Bilder von Gupta sind inszeniert, also keine reinen Dokumentarfotos. Wie steht es denn um die dokumentarische Wahrheit bei seinen Arbeiten und sind solche Inszenierungen mit Menschen, mit Protagonisten oder auch Abhängigen wie beispielsweise bei Santiago Serra heute überhaupt zu vertreten?
Fotografie dieser Art ist eigentlich immer performativ. Sie beruht auf einem situativen Dialog zwischen Fotograf und den Fotografierten. Wenn man sich die 20 Bilder genau anschaut, dann gibt es Momente mit direktem Blickkontakt, aber auch Situationen, wo die Protagonist*innen mit dem Objektiv flirten. Dann wieder gibt es interessanterweise in „Angst“ auch Fotos, die für ein Fashion Magazin entstanden sind und die sich in diese dokumentarische Reihe hineinschleichen. Allein dadurch ist die reine Form gebrochen, weil man immer mitdenkt, dass viele der Bilder vielleicht eine Inszenierung sein könnten. Diese hybride Form der Reihung ist von Gupta sehr bewusst gewollt, er baut diese Unsicherheit sehr gekonnt mit ein. Es ist übrigens ein ganz zeitgenössischer Griff, wie heute an der Schnittstelle von Dokumentar- und Modefotografie gearbeitet wird.
Schon während der Biennale im letzten Jahr haben sich Stimmen kritisch geäußert, dass Gupta die indische Gesellschaft negativ darstelle. Ist das heute immer noch ein Faktor?
Die Biennale 2019 ist ja noch gar nicht lange her. Interessant ist, dass diese Diskurse heute schon so weit führen, dass indische Fotografen nicht mal mehr ihr indisches Umfeld fotografieren dürfen und dass dort bereits eine moralische Grenze gezogen wird. Wobei man doch sagen könnte, dass der fremde Blick, der beispielsweise aus Europa oder den USA auf Indien geworfen wird, doch viel problematischer ist. Es ist immer eine Frage wert, welches Verhältnis zwischen den Fotografen und den Fotografierten besteht – herrscht dort ein Machtgefälle oder geht es da eher um einen Austausch. Bei Gupta ist es so, dass er sich seit Jahren mit den Protagonisten dieser Fotos trifft und die Fotos sozusagen ein kleiner Teil dieser Beziehung sind. Was im Kern kritisiert wird, ist meiner Meinung nach eher, dass jemand mit seinem Werk eine gewisse Aufmerksamkeit und Erfolg hat.
Was macht die Fotos von Gupta denn technisch außergewöhnlich, wenn wir sie im Konzert mit Eberhard Seeliger oder Nan Goldin sehen?
Technisch sind es sehr matte dunkle Inkjet-Abzüge, ein gängiges Verfahren wie heute Bilder produziert werden. Gupta nutzt eine zeitgenössische Bildsprache, indem er Motive aus der Dunkelheit durch einen grellen Blitz herausgeschält. Motivisch geht es in den Nachbarschaften um humanistisch gedachte Beispiele aus dem 20. und 21. Jahrhundert, um performative Befragungen des Dokumentarischen wie bei Allan Sekula etwa oder um subjektive Haltung wie bei Robert Frank. Nur ist das Bild von Frank und seiner Familie ein ganz anderes, als jenes, das Gupta mit seinen Freunden unter der Brücke zeichnet.
Braucht man für solche Bilder eine besondere Ausstellungsdramaturgie? Auch im Hinblick auf unterschiedliche Konnotationen von Kulturaspekten?
Aus meiner Sicht ist jede thematische Ausstellung ein Vorschlag, wie man etwas lesen kann. Man könnte Soham Gupta alleine, eben nur die 20 Bilder zeigen. Wir haben aber im Untergeschoss des Museum Folkwang dieses dialektische Prinzip eingeführt, indem wir Werke aus unserer Fotografie-Sammlung miteinander in Dialog bringen. So können wir zum Beispiel auch spannende Sammlungsobjekte aus dem 19. Jahrhundert reaktivieren und neu lesen, indem wir ihnen eine Position wie die von Soham Gupta an die Seite stellen.
Soham Gupta – Angst | Eröffnung in Vorbereitung, bis 16.5. | Fotografische Sammlung des Museum Folkwang, Essen | 0201 884 50 00
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