Auf dem platten Land zwischen Hünxe und Kirchhellen kriecht der Abendnebel über Feldwege und Kuhweiden. Unweit des Flugplatzes Schwarze Heide blinzeln in der Dämmerung die Lichter des Festivalgeländes. Das Ruhrpott Rodeo, laut Veranstalter Alex Schwers das größte Punkrock-Open Air Deutschlands, ist seit der zweiten Ausgabe 2008 hier beheimatet. Ein Marsch durch den Matsch der letzten, regnerischen Maitage führt vorbei an kleinen Grüppchen, die Dosenbier trinken und entspannt Musik aus Transistorradios hören. Aus den geöffneten Kofferräumen baumeln Beine in Gummiestiefeln, unter Kaputzen aus Müllbeuteln wurschteln sich bunte Iros hervor. An der Schleuse drückt mir ein Volltrunkener vertrauensvoll seinen mit was auch immer gefüllten Tetrapack in die Hand, um sich schwankend die Schuhe zu binden. „Ich versuche zu allen besonders höflich zu sein, weil ich so betrunken bin.“
Der Grund, sich bei winterlichen Temperaturen schon am ersten von insgesamt drei Tagen Festival auf das Gelände zu begeben ist der sehnlich erwartete Auftritt von Pennywise. Vorher geben Dritte Wahl noch ein tolles Konzert, bei dem neben „So wie ihr seid“, „Fliegen“ oder „Halt mich fest“ sogar das selten live gegebene „Zeit bleib stehen!“ gespielt wird. Während das Pennywise-Banner schon hängt, folgt ein Abstecher zu der kleinen Hängerbühne. Dort stolziert gerade Christian Steiffen auf und ab und singt zu lupenreiner Schlagermucke „Sexualverkehr“. Hype und Witz von Steiffen (ist das eine Anspielung auf die nur vordergründige Prüderie des Marianne & Michael Universums oder ein Anti-Karl Moik?) sind mir entgangen. Sein Auftritt erinnert an Kalkofes Mattscheibe: Realsatire kann man kaum mehr parodieren. Viele scheinen den Gag aber zu verstehen und haben ihren Spaß. Vielleicht die Rache dafür, dass Heino die Ärzte gecovert hat.
Schon von der ersten Begrüßung von Sänger Jim Lindberg warten eigentlich alle nur auf „Bro Hymn“. So richtig mitreißend ist der Gig dann aber doch nicht. Zuviel Gelaber von der Bühne, ein wasserstoffblonder Punk schläft an meiner Schulter, vor mir sackt ein Mädel das gerade noch beherzt an ihrem Freund rum fummelte wie ein Sandsack in sich zusammen und muss aus der Masse bugsiert werden. Manche Träume sollen sich einfach nicht erfüllen, das finale „Bro Hymn“ rettet den Abend dann aber noch ein wenig.
Viva Lokalmatador!
Der zweite Tag startet sonniger, wenn auch noch immer matschig mit dem seichten Pop-Punk von Turbostaat. Nett ist das und ein gefälliges Warm-up für die anschließenden Lokalmatadore. Die hüpfen mit Bauarbeiterhelmen auf die Bühne und erinnern an die Ruhrpott-Variante der Village People. Die Nebelmaschine ackert und El Fisch schnoddert: „Macht doch mal den Nebel aus, wir sind doch keine scheiß Hippies“. Ein bisschen Woodstock weht dann aber doch über die Hünxener Brache, wenn hunderte Kehlen Klassiker wie „Herz aus Gold“, „König Alkohol“ oder „Gott erschuf den S04“ unisono intonieren. Einzig das musikalische Kleinod „Ich bin so voll wie die A40, morgens um halb 8“, anno 2013 von El Fisch solo auf der kleinen Bühne des Ruhrpott Rodeos als Premiere angestimmt, fehlt.
Nach so viel Pottromantik und Lokalpatriotismus wirkt Singer/Songwriter Chuck Ragan, bekannt durch Hot Water Music, als Anschluss deplatziert. Violine, Kontrabass und die tiefe Reibeisenstimme ergänzen sich zu tadellosem Folk, der aber unmittelbar nach „Pillemann, Fotze, Arsch“ von den Lokalis doch ein zu großer Kulturschock ist. Erst Millencolllin fügen sich besser an, ihr melodischer Pop-Punk geht gewohnt schön nach vorne, solide aber ohne großen Erinnerungswert, wenn man nicht schon von jeher ein Fan der skandinavischen Skatepunks ist.
Die Berliner Deutschpunks von Terrorgruppe liefern danach eine ihrer ersten Comebackshows. Hits wie „Mein Skatebord ist wichtiger als Deutschland“, „Opa halt’s Maul“ oder „Schöner Strand“ werden vor einem opulenten Bühnenbild in der Dämmerung geschremmelt. Wie die gesamte Show zündet auch die Arschbombe buchstäblich, als die aus dem Hintern ragende, überdimensionale Wunderkerze Funken in die Nacht sprüht.
Die entsprechende Duftnote kommt verzögert, als Bad Religion die Bühne betreten. Während Frontmann Greg Graffin süffisant fragt, was es mit dem Rodeo im Festivaltitel auf sich habe, wabbern kaum zu ignorierende Wogen Gestank über uns hinweg. „What's that smell, Hunx? Shit?“ ist nur eine der launigen Ansagen. Die Attitüde passt wie gespuckt auf die bissigen Texte für die Bad Religion seit mehr als 30 Jahren ebenso bekannt sind wie als Meister des musikalisch für Punk-Verhältnisse doch recht komplexen, melodischen Hardcores. Neben aktuellen Songs des letzten Albums „True North“ sind auch einige ältere Stücke, wie „You Are the Government“ oder „Suffer“ vom gleichnamigen, legendären Album im Set dabei. Die finale und obligatorische Zugabe von „Punk Rock Song“ kommt einen Tick zu genervt. Der Auftritt der Helden des Punk ist vielleicht eine Spur zu launisch, macht aber trotzdem glücklich.
Nieder mit dem Kapitalismus?
Der clevere Liedermacher Götz Widmann sowie der Glam Punk von Prima Donna aus L.A. fallen der frühen Spielzeit zum Opfer. Erst ZSK lockt dann ebenso wie das endlich sommerliche Wetter wieder in die Hünxener Wallachei. Das „Herz für die Sache“-Motiv prangt als eindrucksvolles Banner im Hintergrund. Was von dem Auftritt vor allem in Erinnerung bleibt, sind die Ansagen von Sänger Joshi. Als ein Bengalo in der Menge gezündet wird und ein freundlicher, stiernackiger Security-Mitarbeiter die Fackel stoisch aus der Masse trägt und das Feuerteufelchen direkt mit entfernen will, zeigt sich Joshi solidarisch: „Wenn der junge Mann gehen muss, verlassen wir auch sofort das Festival!“
Soweit kommt es dann aber nicht. ZSK sind bereits als Vorband von Größen wie den Dead Kennedys oder Bad Religion aufgetreten und selbst für Punk-Verhältnisse linkspolitisch äußerst aktiv und nicht nur Maulhelden. Ihre musikalische Popularität nutzen sie dabei, beispielweise bei dem 2005 initiierten Projekt „Kein Bock auf Nazis“. Der Appellcharakter der Ansagen von ZSK ist daher zweifellos authentisch und berechtigt. Allerdings dominiert der mahnende Zeigefinger („VIP-Bereich ist Anti-Punk!“). Das prangert an, reißt aber nicht unbedingt mit, ist moralisch, aber nicht immer motivierend.
Against Me! fallen einer geschlagenen Stunde Schlange stehen für den veganen Döner zum Opfer. Zwischenrufe à la „Das richtige Fleisch gibt es hier nebenan“ inklusive. Die Auswahl zwischen Falafel und Veggidöner für Fleischverweigerer ist eine gute Sache. Die Versorgung insgesamt ist für Festivalverhältnisse tadellos und ebenso wie das Bier für 2,50 € von angemessenem Preis. Wer da noch wegen kapitalistischer Ausbeutung moppert, dem ist auch nicht mehr zu helfen. Gemessen an dem durchschnittlichen Knüllegrad scheint das Bier dann auch nicht zu teuer zu sein und Schnaps schon gar nicht nötig.
Ob das Rodeo nur professioneller oder auch kommerzieller wird, ist schwer zu sagen. Gefühlt scheinen es in jedem Jahr mehr Merchandise-Stände zu werden. Dahinter sitzen aber keine Großfilialisten sondern Label wie RilRec oder Plastic Bomb aus dem Hause der gleichnamigen Musikzeitschrift mit Sitz in Duisburg. Platten und Szene-Krimskrams gibt es ebenso wie den klassischen Antifa-Kram und den Merch der gebuchten Bands. Wer kauft, unterstützt, was er oder sie im Pogopit abfeiert. Die Existenz eines Geldautomaten ist da schon eher zwischen praktisch und befremdlich einzuordnen, ebenso wie der Jägermeister-Stand oder das luxuriöse Bezahl-WC, das Bedürfnisbefriedigung als Zwei-Klassen-System darstellt. Wer aber schon mal in fremder, knöchelhoher Pisse gestanden oder sich über ein Dixi-Loch mit einem Exkremente-Türmchen in der Mitte gebeugt hat, wird diese Option zu schätzen wissen.
Was aber wirklich nicht so recht mit der Genese und aktuell auch sozialkritischen ernährungsbewussten und so auch ökologischen Ausprägung des Punkrock zusammenpassen mag, ist die Wegwerf- bzw. „Fallen lassen wo man gerade steht“-Mentalität. Die Mengen an Plastikmüll scheinen sich unter das Motto „No future“ subsumieren zu lassen. Hier sollte trotz Kühen, Wiese und Glasverbot bei einem so großen Festival doch mal über eine Alternative nachgedacht werden.
Die Stimmung jedenfalls passt. Das Ruhrpott Rodeo ist auch bei seiner achten Ausgabe ein wie erwartet friedliches Fest. Jeder noch so schlaffe Crowdsurfer wird artig nach vorne durchgereicht, wer im Circlepit zu Boden geht gemeinschaftlich wieder aufgehoben und zu heftig pöbelnde Asis auch mal gemaßregelt.
Punk und Politik
Politische Statements finden sich auf der Bühne aber reichlich. Inhalt und Form verknüpfen dabei am elegantesten Irie Révoltés und liefern den besten Auftritt des Festivals. Dass Gesellschaftskritik nicht resigniert sondern auch enthusiastisch sein kann, demonstriert die neunköpfige Band perfekt. Rein musikalisch reißt die Melange aus Ska, Reggea und Hip Hop mit, bei keiner anderen Band an diesen drei Tagen sieht man schon beim Opener „Allez“ so viele Hände in der Luft. Die Dynamik schwappt von der Bühne auf das Publikum über, hält bis zum Ende des Gigs an. Seit 14 Jahren gemeinsam unterwegs, engagieren sich Irie Révoltés auch abseits der Bühne für soziale und ökologische Themen. Davon handeln auch ihre Lieder. Ob „Viva con Agua“, „Aufstehen“ oder „Travailler“, die Songs von Irie Révoltés kritisieren Kapitalismus, Rassismus, Homophobie und Vorurteile. Die „alerta, alerta, antifascista!“-Rufe sind nicht lauter als bei ZSK. Die die Ärmel hochkrempelnde Energie ist aber ansteckender. Die Euphorie schweißt aber, wenn auch nur für die Dauer des Gigs, unerschütterlicher zusammen. Für einen kurzen Moment scheint sie realisierbar, die bessere Welt, als würde die Revolution jetzt in diesem Augenblick, auf diesem Feld mitten in Hünxe beginnen.
Die Magie mag schnell verfliegen, aber alle Utopien sind anfangs nicht mehr als eine idealistische Idee, die Menschen verbindet. Diese Idee zu vermitteln gelingt Irie Révoltés mittels ihrer Musik und vorgelebten Engagements wie keiner anderen Band auf dem Rodeo. Während bei Bad Religion der alles andere als dezente Duft von Scheiße umherwabberte, riecht es hier nach Räucherstäbchen. Vielleicht auch eine Frage des Karmas und einer neuen Generation, die durchaus reflektiert ist. Kunst, Gesellschaftskritik und Spaß schließen einander nicht aus.
Natürlich wollen und müssen auch gar nicht alle politisch sein. Die Veteranen von Turbonegro erfreuen danach mit inhaltlich simplen Songs wie „I Got Erection“ oder „Get It On“. Nebst ordentlichem Punk’n’Roll kriegt man von den Norwegern eine fluoreszierende Bühnenshow und eine Verschnaufpause vor der letzten Band des Festivals.
Ende 2013 als erster Act auf der Homepage angekündigt, schließt sich der Kreis des Ruhrpott Rodeos 2014 mit Cock Sparrer. Stücke aus vier Jahrzehnten (wenn auch diskontinuierlicher) Bandgeschichte quetschen noch das letzte Quäntchen Energie aus dem nach Mitternacht noch zahlreich vorhandenen Publikum heraus. Junge Punks, ergraute Alternative und Skinheads singen jeden Song textsicher mit. Ein besonders loyaler Fan grölt die erste Strophe von „Because You‘re Young“ inbrünstig im Alleingang, ist ohne Mikrophon fast genauso laut wie Collin McFaull. 1972 in London gegründet, gelten Cock Sparrer als eine der einflussreichsten Streetpunk-Bands und Mitbegründer des Oi!-Punks. Alte und neue Songs von dem Album „Shock Troops“ bis „Here We Stand“ werden gespielt. Es geht um alltägliche Dinge und Situationen, Arbeit, Frauen, Liebe und das Leben an sich. Die Frage „What’s it like to be old?“ stellt sich schließlich jede Generation neu. Die Briten können davon auch nach über 40 Jahren auf der Bühne noch zu dem schnellen, melodiösen Rhythmus des Streetpunks singen. Ein würdiger Abschluss von drei Tagen trinken, tanzen, taumeln.
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