Angefangen hat alles mit der Bildhauerei. Doch nachdem der Künstler der Skulptur den lebenden Körper hinzufügte, entfernte er sich schnell von dem, was eine Skulptur ausmacht. Das Museum Folkwang in Essen zeigt eine große Retrospektive des niederländischen Künstlers Aernout Mik. Es wird ein Überblick der Arbeiten aus den letzten zehn Jahren mit besonderem Fokus auf die jüngeren Film- und Videoproduktionen und die in Deutschland bis dato noch nicht ausgestellten Werke. Mik (geboren 1962 in Groningen) zählt zu den wichtigsten Künstlern der Niederlande. Seine Raum- und Videoinstallationen, die zahlreiche Schnittstellen zwischen Film, Video, Performance, Skulptur und Architektur aufweisen, haben den künstlerischen Umgang mit dem bewegten Bild grundlegend weiterentwickelt. Sabine Maria Schmidt hat die Ausstellung kuratiert, die nach Paris in Essen und dann in Amsterdam gezeigt wird.
trailer: Frau Schmidt, eine Retrospektive mit Aernout Mik muss doch ein Höchstmaß an Unübersichtlichkeit bedeuten. Das gefällt dem Künstler sicher.
Sabine Maria Schmidt: Unübersichtlichkeit kann ich in unserem Ausstellungsparcours gar nicht erkennen. Aernout Mik hat einen wirklich einheitlichen Ausstellungsparcours entwickelt, in dem die Besucher ihren Weg frei wählen können, aber vielleicht doch nicht so ganz frei, wie sie denken, dass sie es tun. Das hat schon mit vielen Dingen der künstlerischen Arbeit zu tun, und mit der Frage, welche Freiheit haben wir tatsächlich. Es gibt insgesamt zehn größere Installationen. Mik ist ein Videokünstler, der aber die Bilder nicht direkt an die Wand projiziert. Für jede Arbeit entwickelt er eine Architektur, einen Rahmen oder ein Gerüst. Das ist sehr wichtig und ermöglicht viele Dinge, die wir sonst in der Videokunst nicht kennen. Die Bilder stehen quasi auf dem Boden, und das bedeutet, dass der Betrachter unmittelbar physisch in das Bild hineingesogen wird, auch in die Gruppen, die dort agieren. Sie sind oft sogar ein Teil dieser Gruppen. Dazu werden sie physisch einbezogen in die Kamerabewegungen, die bei Aernout Mik eine große Rolle spielen.
Im ablaufenden Film?
Sie sehen meist nicht nur ein Bild, Videoexperten nennen das die sogenannte Ein-Kanal-Videoinstallation, sondern meistens mehrere Bilder, teilweise zweiteilige, dreiteilige oder achtteilige Videoinstallationen. Dazwischen gibt es immer einen Vergleich. Zwischen verschiedenen Perspektiven, verschiedenen räumlichen Anordnungen, Handlungsweisen und -zeiten. Also, auf dem linken Bild passiert etwas, was auf dem rechten Bild anders und etwas später stattfindet.
Die vertraute Welt gerät also ins Wanken. Ist Mik nicht eher Zen-Meister denn Polit-Künstler?
Ich weiß gar nicht, ob Aernout Mik überhaupt als Politkünstler diskutiert wird. Als Zen-Meister würde er sich wohl auch nicht sehen. Beide Begriffe passen auf ihn wirklich nicht. Aber er ist zutiefst politisch in der Form, wie er das, was uns heute beschäftigt und aktuell passiert, darstellt. Und zwar in einer Weise, in der das, was wir zu kennen glauben, durch eine ganz leichte Verschiebung zu etwas völlig Fremdem gemacht wird. Wie bei dem neu produzierten Film „Shifting Sitting“, auf den wir sehr stolz sind. Hier taucht eine sehr berühmte politische Figur auf, die aber nicht die Figur ist, die sie zu sein scheint. Es ist ein Regierungsvertreter, den wir andauernd vor Gericht sehen. Und dass wir dieses Bild, in der wir diese Figur andauernd vor Gericht sehen, mittlerweile als etwas Normales empfinden, das ist ja irgendwie eine perfektionierte Verrücktheit. Die Ausnahmesituation ist plötzlich zu einem Normalzustand geworden.
Aber sind die Videos nur Teil einer Gesamt-Installation?
Die Installation oder der Rahmen, das architektonische Element ist sehr wichtig für die Arbeit. Es gibt allerdings auch Videoarbeiten, die Mik auf Screens zeigt. Wir haben zum Beispiel in der Ausstellung eine Arbeit, die er auf hängenden Screens zeigt, die hat auch interessanterweise Ton. Aber diese Rückführung des bewegten Bildes in den Raum ist für ihn ein ganz essentieller Punkt, weil er nur so eine Begegnung des Betrachters mit dem, was in den Bildern passiert, erreicht, die man sonst nicht erreichen würde. Der Betrachter muss sich den Bildern gegenüber verhalten, muss um sie herumgehen und sich fragen: Wo ist mein Part in dieser Rolle?
Und das alles ohne Ton?
Das ist auch eines der erstaunlichen Elemente, das Aernout Mik in der Videokunst eingeführt hat. Alle seine Arbeiten funktionieren ohne Ton. Man hat keine Geräusche, und das macht ein Ausstellungskonzept mit so einer Architektur überhaupt erst möglich. Die Tonlosigkeit erfordert die noch größere Schärfung des Betrachters, noch mehr Nachdenken darüber, was da eigentlich passiert. Die Figuren sprechen nicht, aber sie agieren. Wir müssen manchmal ein bisschen von den Lippen lesen, wir müssen Gesten erkennen können, wir müssen rituelle Gesten erkennen, müssen Mimik anders werten.
Noch ein Wort zum Titel „Communitas“.
Der Ausstellungstitel „Communitas“ ist einer Arbeit von Aernout Mik entlehnt, die er für seinen großen Film gewählt hat, den er 2010 in Warschau gedreht hat. Er hat diesen Begriff vorrangig in den Schriften von Victor Turner kennengelernt. Turner ist ein britischer Anthropologe, der Gesellschaften, insbesondere afrikanische Gesellschaften, untersucht hat und dabei Stammesrituale beobachtet hat, in denen in bestimmten Zuständen und Riten, die vor allen Dingen mit der Verarbeitung von kolonialen Traumata zu tun haben, jegliche hierarchische Struktur wegfällt. Der Rheinländer kennt das vielleicht ein bisschen aus dem Karneval. Es gibt ein sehr starkes Moment, dass plötzlich alle gleich sind und was völlig Verrücktes passiert. Darüber hat er recherchiert. Jean Rouch hat das übrigens verfilmt in dem bedrückenden Film „Les Maitres Fous“ von 1954 über ein Ritual der Hauka, einer Sekte in Westafrika, deren Teilnehmer in Trance von Geistern besessen waren, die für die europäischen Kolonialmächte standen. Auch davon hat sich Aernout Mik sehr inspirieren lassen.
„Aernout Mik – Communitas” I Museum Folkwang, Essen I 29.10.-29.1.2012 I 0201 884 54 44
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