„Wir verweigern uns an vielen Stellen der reinen Industriekultur“
30. Juni 2016
Pixelprojekt_Ruhrgebiet in Gelsenkirchen zeigt neu übernommene Fotoserien – Sammlung 07/16
Seit 13 Jahren gibt es das Pixelprojekt Ruhr, eine einmalige Dokumentation der Region. Doch leicht ist diese Arbeit im Schatten der touristischen „Unique Selling Points“ nie gewesen. trailer sprach mit Initiator und Leiter Peter Liedtke.
Peter Liedke: Guten Tag, mein Name ist Peter Liedtke, ich leite das Pixelprojekt-Ruhrgebiet.
trailer: Danke. Kann ich mir die biografischen Fragen ja sparen. Das Gedächtnis der Region wächst – aber leidet es nicht schon längst an Alzheimer? Peter Liedke: Jetzt muss ich erstmal nachdenken, was die Frage bedeutet. Ich frage mich, ob der Vergleich richtig ist. Alzheimer haben ein paar Leute ja so oder so sehr gerne. Ansonsten würde man ja die Fehler, die man schon begangen hat, nicht ständig wiederholen. Da muss man sich auch fragen, wer sich mit Geschichte auseinandersetzt, um Zukunft zu gestalten. Es ist ja eigentlich völlig absurd, Zukunft gestalten zu wollen, wenn man nicht den Blick zurück auf seine Geschichte wagt. Wir beim Pixelprojekt versuchen genau diese Dinge zusammenzubringen. Und doch, wo wir besonders gut aufgestellt sind, ist natürlich Gegenwart. Die meisten Arbeiten sind so ab der Jahrtausendwende, vielleicht auch schon ab 1995 oder erst 2002, das weiß ich jetzt nicht so ganz genau. Von daher gibt es heute ganz viele Serien. Dennoch haben wir auch Arbeiten, die noch weiter in die Geschichte zurückgehen. Die ältesten im Bestand sind aus den 1920er Jahren, danach kommen die Kriegsjahre. Mehr gibt es so gut wie nicht auf dem Markt. Und dann fängt es erst wieder in den 1950er Jahren an. Dieses Jahr haben wir zum Beispiel auch Chargesheimer aufgenommen, der 1957/58 im Ruhrgebiet fotografiert hat.
Also mehr Zustandsbericht denn Gedächtnis des Ruhrgebiets? Das Heute wird doch erst zum Gedächtnis.
Peter Liedtke
Foto: Dominik Lenze
Zur
Person
Peter
Liedtke studierte bis 1990 in Essen Kommunikationsdesign. 1986
erhielt er den Förderpreis der Stadt Gelsenkirchen und begann
freiberuflich als Bildjournalist mit Schwerpunkt Sozialreportage
insbesondere für kirchliche Medien zu arbeiten. 2002 Entwicklung und
Leitung des Pixelprojekt_Ruhrgebiet, die digitale Sammlung
fotografischer Positionen als regionales Gedächtnis.
Jede Serie ist für sich ein Zustand. Chargesheimer hat das Ruhrgebiet fotografiert und hat ein authentisches Bild, also sein authentisches Bild – es ist ja immer eine Person, eine persönliche Stellungnahme, die die Fotografen abliefern – aus der Zeit abgegeben. Erst wenn man die Serien zusammenfügt, entwickelt sich so etwas wie ein Zeitstrang. Das hat natürlich keine direkte Stringenz, so wie Geschichte ja auch nicht einfach linear läuft, sondern man hat verschiedene Entwicklungen, verschiedene Aspekte, und wenn man diese zusammenfügt, sieht man letztlich schon eine deutliche Entwicklung. Auch einer Region.
Hat sich die Wahrnehmung der Fotografen verändert? Hat man früher andere Dinge fotografiert? Andere Dinge – und anders. Wir sammeln ja die Fotos unter verschiedenen Aspekten. Der eine Aspekt ist die Relevanz: Was ist das für ein Thema, wie wichtig ist dieses Thema? Und das zweite ist die künstlerische Qualität einer Arbeit. Da ist die Fotografie wie jede Kunstrichtung bestimmten Modeerscheinungen unterworfen und die Dinge ändern sich natürlich auch laufend. Insofern ist Pixelprojekt_Ruhrgebiet auch ein Beispiel für die Entwicklung der Fotografie als solche.
Und die Motive? Die Motive haben sich mit Sicherheit auch verändert. Wir verweigern uns an vielen Stellen der reinen Industriekultur als „Unique Selling Point“ der Region. Dennoch gibt es endlos viele andere Themen, um die es gerade geht. Der Dauerbrenner der letzten zwei, drei Jahre ist Duisburg-Bruckhausen, hat zwar auch was mit Industrie zu tun, aber letztlich geht es um einen Stadtteil, der im Schatten der Industrieanlagen liegt, ein Stadtteil, der gerade großflächigst abgerissen wird, mit nicht nur der Vernichtung von Bausubstanz, sondern auch der Vernichtung von Sozialräumen. Die Menschen leben ja nicht nur irgendwo, damit sie ein Dach über dem Kopf haben. Das soziale Gefüge ist in Bruckhausen restlos vernichtet worden, und das kriegen die Fotografen auch mit. Aber wir haben dieses Jahr auch solche Geschichten über die Betonarchitektur der 70er Jahre, den sogenannten Beton-Brutalismus, der aktuell auch diskutiert wird: ob das denkmalgerecht ist, ob wir das erhalten können und wie viel. Noch vor zehn Jahren hat man diese Architektur immer für die Unmenschlichkeit von Architektur angeführt, wobei das in den 70ern totale Zukunftskonzepte waren.
Das Pixelprojekt Ruhrgebiet ist jetzt 13 Jahre alt, seine Möglichkeiten im Prinzip grenzenlos. Hängt es immer noch am Tropf von Politik und Sponsoren? Ja, leider Gottes. Wir haben ja Versuche gemacht, das Pixelprojekt auch in die Wirtschaftlichkeit zu führen. Wir haben in jedem Projekt einen Bookshop, da kann man Bücher der Fotografen kaufen, die im Projekt sind, da sind Bücher dabei, die gibt es in keinem Buchhandel, weil das rare Ausstellungskataloge von einzelnen Museen sind, dennoch haben wir sie verfügbar gemacht und bieten sie an. Damit machen wir dann einmal im Jahr 100 oder 200 Euro. Dennoch haben wir es probiert. Wir haben den Versuch gemacht mit der Galerie 100 Fotografie in Edition zu einem relativ kleinen Preis auf den Markt zu bringen und damit sowohl den Fotografen als auch das Projekt weiter unabhängig von Fördergeldern zu machen. Auch diesen Versuch mussten wir dieses Jahr abbrechen. In zehn Jahren haben wir so ein paar Bilder verkauft, aber gleichzeitig einige tausend Euro Kosten produziert. Wenn das das Modell ist, wie sich freie Künstler selbst finanzieren – so kann es einfach nicht sein. Der Kultur-Markt ist insgesamt sehr, sehr schwierig. Hier im Ruhrgebiet ist er noch etwas schwieriger. Und für die Fotografie ist er noch fast am schwierigsten, weil wenn man sich schon Kunst kauft, dann lieber ein Ölschinken oder zumindest etwas, wo man das Gefühl hat, es wäre ein Unikat.
Bleibt im Ruhrgebiet letztlich immer nur das Spektakuläre, das, was dann auch ‚vermarktbar‘ ist durch die Tourismus-GmbH? Bleibt? Die Frage ist, ob es so bedeutsam ist, dass wir einfach irgendwelche merkwürdigen Bilder ranschaffen. Die Geschichte mit dem Still-Leben Ruhrschnellweg – das ist natürlich ein tolles Bild, dass aus Autobahnen Partymeilen werden, aber wofür soll dieses Bild stehen? Meiner Meinung nach hat das Ruhrgebiet endlos viele Stärken und endlos viele Qualitäten, aber es hat keine göttliche Schönheit, und wenn es eine Schönheit hat, dann ist das eine andere Schönheit. Da muss man nur an den Grönemeyer-Song „Bochum“ denken. Die Qualität des Ruhrgebiets ist es, eine Region der Migration zu sein, wo ein friedvolles Miteinander funktioniert. Es ist eine Region, in der ein Strukturwandel in einem Ausmaß, der in allen anderen Ländern zu sozialsten Katastrophen geführt hat, hier relativ sozial verträglich organisiert werden konnte. Es hat etwas roughes, was ja durchaus auch eine Qualität sein kann. Meines Erachtens hat die Region hier die Bilder, die von selbsternannten oder von uns bezahlten Touristikern propagiert werden, eigentlich nicht verdient. Gerade die so plakative Art und Weise finde ich unerträglich.
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