Heinz-Jürgen Voß ist Professor an Deutschlands erstem Institut für Angewandte Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg und hat sowohl Biologie als auch Sozialwissenschaft studiert. Eine überaus sinnvolle Kombination, das konnte man am Montagabend bei seinem Vortrag zur Entstehung von Männlichkeitsbildern erkennen.
Was bedeutet ‚Männlichkeit‘ eigentlich heute? Diese Frage stellte auch SLADO-Sprecher Frank Siekmann einleitend und verwies auf die Diskrepanz zwischen grölendem Fußballfan und höflichem Gentleman, also zwischen alten und neuen Konzeptionen ‚des Mannes‘. Bereits hier wurde deutlich: Männer- und Frauenbilder waren schon immer historisch konstruiert, wurden durch wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs ausgehandelt.
Voß stellte in seinem dichten Vortrag dabei einen Überblick der letzten 700 Jahre vor und zeichnete den Weg zu einem Männlichkeitsideal nach, das ausschließlich durch Abgrenzungen konstruiert wurde. Dieses Ideal sei – mit Blick auf Kapitalismus, Kolonialismus und Aufklärung – durch die Kategorien Geschlecht, Rasse und Klasse festgelegt, so Voß. Vor allem im Zuge der Aufklärung wurde verhandelt, wer universelle Menschenrechte in Anspruch nehmen dürfe – auch Frauen, Juden, Arme, Farbige? Für das Ideal des europäischen, bürgerlichen, weißen Mannes seien diese Menschenrechte jedoch niemals in Frage gestellt worden. Vielmehr habe sich dieses Bild über Jahrhunderte hinweg konsolidiert und sei beispielsweise in Abgrenzung zu fremden Völkern entstanden, um die Herrschaft in kolonisierten Ländern zu legitimieren. Durch die Entstehung der modernen Biologie und Medizin sei dann weiter versucht worden, die Geschlechter zu klassifizieren und zu kanonisieren. Zuletzt erfuhr das Bild ‚des idealen Mannes‘ einen Aufschwung durch die Idealisierung des Militärs sowie durch das kranke Menschenbild nationalsozialistischer Ideologie.
Vormoderne entwicklungsbiologische Vorstellungen amüsieren in heutiger Zeit, haben sich jedoch innerhalb der Wissenschaft lange gehalten. So wurden beispielsweise lange Zeit weibliche Geschlechtsorgane als den männlichen genau entgegengesetzt imaginiert, eben nur innerhalb und nicht außerhalb des Körpers. Und die Vertreter der Präformationslehre behaupteten, der gesamte Organismus eines Menschen sei bereits in der Samenzelle des Mannes angelegt und müsse nur noch wachsen. Die Frau diente hierbei lediglich als nährende Kraft des heranwachsenden ‚Männchens‘, das angeblich durch mikroskopische Untersuchungen nachgewiesen wurde.
Heute lachen oder schmunzeln wir darüber, aber genau mit solchen Beispielen zeigte Voß, wie solche wissenschaftlich konstruierten Kategorisierungen hinterfragt werden können. Trotzdem sind idealtypische Bilder von Männlein und Weiblein noch immer in medizinischen und biologischen Lehrbüchern zu finden. So sieht also Geschlecht aus, und nicht anders!? Laut Voß gebe es im globalen Norden trotzdem die Tendenz zu flexibleren und individuellen Geschlechter- bzw. Genderkonstruktionen sowie zu einer Pluralisierung von Lebensweisen. Etablierte Kategorien und gesellschaftliche Tabus werden offen angeprangert und hinterfragt. Wichtig sei hier, so Voß, keine internationale Adaption deutscher bzw. europäischer Emanzipationsbestrebungen zu fordern, jede Kultur müsse einen eigenen Weg zu einer vielfältigen Gesellschaft finden.
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