Fraglos ist Wilhelm Lehmbrucks Skulptur einer „Knienden“ – die lebensgroße Darstellung einer andächtig in sich versunkenen Frau – ein Meisterwerk der modernen Kunst. Über das angewinkelte Bein, welches das kniende Bein in der Balance hält, fällt ein Tuch. Der Oberkörper wächst aufrecht empor, das Haupt neigt sich leicht nach vorne und zur Seite, der rechte Arm zeigt nach oben und auf den Körper, während der linke sanft auf dem Oberschenkel aufliegt. Alles in allem entsteht der Eindruck höchster Anmut in der inneren Sammlung. Nur, wie lange verharrt die Figur in dieser Haltung, erhebt sie sich gerade und worüber sinnt sie nach? Wie wurde sie von Wilhelm Lehmbruck konzipiert, und welches ist ihre Hauptansicht? Und dann das: Würde sie sich erheben, wäre sie riesig. Die Innigkeit im Gegenüber war Lehmbruck also wichtiger als ein reiner Naturalismus. Er bringt anschaulich zum Ausdruck, was sich mit Worten kaum beschreiben lässt. Schon wie sich die Finger der rechten Hand zueinander verhalten, ist voller Symbolgehalt und mit Bezügen zur Kunst wie auch zum realen Leben.
In der Sammlung des Duisburger Lehmbruck Museums ist die Skulptur dieses bedeutenden Bildhauers, nach dem das Museum benannt ist, mit zwei posthumen Güssen vertreten; entstanden aber ist sie 1911. Wilhelm Lehmbruck (1881-1919) hat sie im Atelier in Paris modelliert, wo er mit seiner Familie von 1910 bis 1914 lebte. Hier setzt nun auch die Ausstellung in Duisburg an, die zum 100jährigen Jubiläum der „Knienden“ mit großem Aufwand veranstaltet wird. Sie rekonstruiert den zeitlichen Kontext in Paris und fragt, inwieweit Lehmbruck bei seiner so pur wirkenden Arbeit vom kulturellen und gesellschaftlichen Umfeld beeinflusst gewesen sein könnte. In separaten Kapiteln geht die Schau den Motiven und Hintergründen dieser Skulptur nach und lässt dabei kein visuelles Medium aus. Neben einer Vielzahl von Skulpturen sind Zeichnungen, Porzellan, Möbel, Fotografien und Filme zu sehen, speziell zum Ausdruckstanz, der im frühen 20. Jahrhundert hohes Ansehen erlangte.
Auch wenn gerade die Betonung des Tanzes im Hinblick auf die „Kniende“ übertrieben scheint und die Menge der sehr dicht präsentierten Werke in Duisburg mitunter ermüdend wirkt: Die Sorgfalt im Vorgehen ist eindrucksvoll, und die Leihgaben, die von nah und fern zusammengetragen wurden, sind herausragend. Zu sehen sind etliche Hauptwerke der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts, darunter „Der Kuss“ (1907) von Constantin Brancusi, die „Sich verbeugende Tänzerin“ (1896/1911) von Edgar Degas und die „Sitzende“(1914) von Henri Gaudier-Brzeska. Schon die Titel lassen ahnen, warum genau diese Skulpturen zur Verdeutlichung von Lehmbrucks „Kniender“ entliehen wurden.
Hauptwerke der Kunstgeschichte
Aber auch das Duisburger Museum selbst hat in seinem Bestand allerhand zu bieten, und zumal jetzt, bei dieser Ausstellung leitet der Parcours wie selbstverständlich in den Trakt, der dem Werk von Wilhelm Lehmbruck gewidmet ist. Dazu konnten 2008/09 mehr als 1.100 Werke Lehmbrucks aus dem Nachlass erworben werden. Es ist natürlich der Idealfall, dass ein Künstler wie Lehmbruck, der 1881 in Meiderich geboren wurde, von seiner Heimatstadt mit einem nach ihm benannten Museum geehrt wird, welches übrigens sogar von seinem Sohn als Architekten konzipiert wurde. Kontinuierlich sind hier Werke aus allen Schaffensphasen zu sehen, und deutlich wird dabei, dass Lehmbruck zu Recht als ein Großer der deutschen Skulpturengeschichte gilt. Er geht auf die künstlerische Moderne und das gesellschaftliche Klima seiner Zeit ein und entwickelt daraus eigene Formlösungen, mit denen er nie das Ideal des Menschen aufgibt; dieser steht mit seiner existenziellen Fragilität vielmehr im Zentrum seiner Arbeit: Lehmbruck war modern ohne modisch zu sein. Auch das verdeutlicht die Ausstellung zur „Knienden“. Und Lehmbruck vollzieht in seiner Kunst den Schritt vom Symbolismus, dem noch die „Kniende“ zuzuordnen ist, zum Expressionismus. Ein Schlüsselwerk dafür ist der „Emporsteigende Jüngling“ (1913/14), der nun auch in die Wechselausstellung integriert ist.
Wie großartig aber Lehmbruck durchgehend in seiner plastischen Kunst war, das bestätigt der Bestand im Lehmbruck-Trakt. Zu sehen sind hier auch die (teils wenig geglückten) Malereien gemeinsam mit Bildern von Nay und Kokoschka. Vor allem aber sind in vorsichtiger Nähe zu Lehmbrucks Skulpturen einzelne plastische Werke anderer Künstler aus der Duisburger Sammlung platziert. Mancher Dialog mit der später entstandenen Kunst wirkt etwas konstruiert. Aber die Zusammenstellung von Duane Hansons „War (Vietnam Piece)“ (1967), Olaf Metzels laufendem Torso von 1981 mit Lehmbrucks kleinem „Stürmenden“ (um 1915) und seinem berühmten „Gestürzten“ (1915) verdeutlicht doch viel über die physische Konstitution des Menschen in extremer Anspannung und seine geistige Verfassung bei Not, im Scheitern: Lehmbrucks Erkenntnisse sind nach wie vor gültig ... Das „Tischmobile“ von Alexander Calder lässt im Lehmbruck-Trakt wiederum an eine Wirbelsäule, an die Biegung des Körpers denken, wird so mit einem Mal enorm figürlich. Alberto Giacometti ist hier mit mehreren Werken vertreten – als weiterer moderner Meister, neben dem die Skulpturen von Penck oder Lüpertz nicht unbedingt bestehen können.
Und dann gibt es in diesem Trakt noch die eine Passage, in die man vom Eingangsbereich aus direkt kommt und in der auf engstem Raum und bei mäßiger Beleuchtung plastische Werke von Künstlern wie Belling, Lipchitz, Marini, Max Ernst oder Zadkine ausgestellt sind, welche die Geschichte der jüngeren Bildhauerei erst recht lebendig werden lassen – wir haben es hier mit einem Skulpturen-Museum von europäischem Zuschnitt und Rang zu tun. Das sollte sich dann, wenn die wichtige Jubiläumsausstellung zur „Knienden“ wieder aufgelöst ist, konstant auch in den Wechselausstellungen zeigen.
„100 Jahre Lehmbrucks Kniende – Paris 1911“ I bis 22. Januar in der Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum in Duisburg I www.lehmbruckmuseum.de
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