Seit sie in ihrer neuen Heimat, dem Musikforum Ruhr spielen, begegnet das Publikum den Bochumer Symphonikern (Bosy) mit einer ganz neu entfachten heißen Liebe und unbändiger Lust. Und die halten auch ein gutes Jahr nach Eröffnung des Hauses noch an. Ein neuer Ausbruch der rasenden Begeisterung war beim in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlichen Programm „Die acht Jahreszeiten“ zu beobachten.
Mit 21 Musikern – vornehmlich Streichern – steht an diesem Abend ein feiner Auszug des Orchesters auf der Bühne. Ein Dirigent fehlt, was durchaus Sinn ergibt: Der Dirigent mit Taktstock ist eine Erfindung der Neuzeit, Felix Mendelssohn Bartholdy gilt als erster im heutigen Sinn. Die Bosy starten allerdings mit dem Konzert „Der Frühling“ aus Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ – und wie im Barockzeitalter üblich leitet ein aktiver Musiker den Klangkörper: Raphael Christ, der Konzertmeister und Solo-Violinist.
Dass dies ein toller Abend wird, ist nach den ersten Takten klar: Geiger und Bratscher spielen stehend im Halbkreis und gestalten die ersten dynamischen Wechsel so kraft- wie gefühlvoll und offenbar bis in die Haarspitzen (oder besser gesagt: Fingerkuppen) aufgeladen mit Energie und Spielfreude. Raphael Christ springt mit seiner Violine wie vogelfrei in der Mitte herum, gibt sich im ersten Satz Vivaldis der lautmalerischen Gestaltung von Vogelgesängen hin.
Nach dem Frühling kommt bei den Bosy allerdings nicht der Sommer, sondern ein ganz anderer Frühling – schließlich sollen der Jahreszeiten acht dargeboten werden. Jedes Jahreszeiten-Konzert des barocken Meisters stellt das Orchester einen Tango aus Astor Piazzollas Komposition „Las Cuatro Estaciones Portenas“ („Die vier Jahreszeiten von Buenos Aires“) nebenan.
Piazzolla hat sich mit diesem Werk rund 250 Jahre später auf Vivaldi bezogen – und natürlich hört man ihm die vergangene Zeit an, Klänge, die zu seiner Zeit überhaupt erst gedacht werden konnten: Ein Reißen und Ziehen in den Streichern, Impulsivität, Temperament, Brüche, scharfe Kanten, ein loderndes Feuer, eine große innere Spannung, aber auch Momente der Kontemplation und Melancholie, der Melodieseligkeit. So klingt in der ruhigen Mitte von Piazzollas Frühling durchaus das getragene Largo aus Vivaldis Frühlings-Konzert an.
Durch die Gegenüberstellung kann man das Konzert der immer besser aufgelegten Bosy wie einen Wettstreit der Komponisten über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg lesen: Vivaldis Sommer klingt mit seinen krassen Wechseln auf einmal sehr modern, die krasse Entladung des sich überall ankündigenden Sturm-Motivs im letzten Satz wie der Wille an die starke Emotionalität des Argentiniers heranzureichen.
Doch Piazzollas setzt noch einen drauf: Sein Sommer weist zähe Dissonanzen auf, wirkt mal erdenschwer, mal zerfahren, brüchig, ambivalent, ruhelos – und endet wie ein Plattenspieler, dem man den Saft abgedreht hat. Im argentinischen Herbst und Winter macht dann auf einmal das Cello der Geige den Platz des Solo-Instruments streitig – Stimmführer Wolfgang Sellner hat damit jeweils große Momente.
Hierfür ist auch der russische Komponist Leonid Desyatnikov zu loben, der aus Piazzollas ursprünglich für Tango-Quintett geschriebenem Werk erst Ende der 1990er-Jahre kongenial eine Fassung für Streichorchester erarbeitet hat. Mit seiner Beteiligung im Hinterkopf hat das Bosy-Publikum ein wahrhaft weltumspannendes Konzertprogramm erlebt – und spendet am Ende zurecht tosenden Applaus und Standing Ovations.
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