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Das Gehirn ist auch nur eine Maschine, die Daten verarbeitet
Grafik: Theater Essen

„Der Mensch kann sich wirklich an alles gewöhnen“

28. März 2013

Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer über die Sinnhaftigkeit einer Inszenierung von „Clockwork Orange“ in Essen – Premiere 04/13

Das Buch machte seinen Autor 1961 schlagartig berühmt, Stanley Kubricks Verfilmung zehn Jahre später wurde Kult: Alex und seine Gang ziehen Nacht für Nacht tollschockend durch die Stadt und stürzen sich auf wehrlose Opfer – zynisch, grausam und gewissenlos. Eine solch grundlose Lust an Gewalt und Zerstörung verstört auch heute noch. Unsere Gesellschaft steht den Verbrechen ohnmächtig gegenüber und sucht nach Erklärungsmustern. Die „Lösung“ in Anthony Burgess’ Roman ist effektiv: Gehirnwäsche! Ausgehend von „Clockwork Orange“ beschäftigt sich Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer in seiner eigenen Bühnenfassung mit aktuellen Entwicklungen der Gehirnforschung und Neurobiologie.

trailer: Herr Schmidt-Rahmer, Tollschocken ist immer noch in? Gewalt gegen alle nimmt zu – oder war sie nur unterdrückt?

Hermann Schmidt-Rahmer: Ich glaube, Gewalt ist in unterschiedlichen Ausprägungen Bestand der menschlichen Kultur. Sie hat in der Menschheitsbildung in einem gewissen Sinn sicherlich eine wichtige Rolle gespielt. Aber die entscheidende Frage ist, ob wir vielleicht, was unser biologisches Verhalten betrifft, in einer sehr starken Diskrepanz stehen zu den sozialen und technischen Möglichkeiten, die wir heute haben.

Spielen Beethoven und Milch in Ihrer Fassung eine Rolle?
Milch spielt eine Rolle – Beethoven nicht! (lacht)

Würde es Alex mit dem heutigen Wissensstand – Stichwort Neuro-Enhancements – besser ergehen?

​Hermann Schmidt-Rahmer
Foto: Lena Obst
Hermann Schmidt-Rahmer wurde 1960 in Düsseldorf geboren. Er studierte Musikwissenschaft und Philosophie in München und absolvierte ein Schauspielstudium an der Universität der Künste Berlin. Nach Engagements an der Freien Volksbühne Berlin, am Schauspielhaus Köln, dem Hamburger Schauspielhaus und dem Wiener Burgtheater arbeitet er seit 1990 als freier Regisseur und ist Professor für Szene an der Universität der Künste in Berlin.

Das ist eine gute Frage. Da würde ich zurückfragen: besser für wen? Das Neuro-Enhancement beschreibt ja tatsächlich die Idee, dass über einen medizinisch-technischen Eingriff im Gehirn Denken verändert wird, pharmakologisch oder über die direkte Intervention. Die nordamerikanische Forschung geht ja so weit zu sagen, das Böse oder moralisches Fehlverhalten ist eine Krankheit, die sich therapieren lässt. Was für ein Menschenbild für das Individuum dabei herauskäme, wenn man diese Ansätze konsequent zu Ende denkt, ist genau das Thema des Abends. Ob das besser oder schlechter ist, ist vielleicht eine Entscheidung, die am Ende dem Publikum überlassen bleibt – und auch sollte.

Und wie ist das mit Gehirndoping für alle?
Das kommt. Ich bin zutiefst überzeugt davon, dass die Manipulation des eigenen Denkens eine Entwicklung sein wird, die in den nächsten 30 Jahren auf uns zukommt. Das Finstere daran wird nicht die Frage sein, ob das kommt, sondern unter welchen Voraussetzungen und ob man sich dem eines Tages vielleicht sogar anschließen muss. Und dass es vielleicht geradezu ein Beleg für Schuld im strafrechtlichen Sinne sein wird. Da wird dann gesagt werden: Sie haben sich ja nicht enhanced. Sie haben ja nicht die Verantwortung für Ihre Gefühle, für Ihr Handeln und Denken übernommen. Wenn Sie quasi ohne einen Impulshemmer auf die Straße gehen, dann muss der Ihnen zwangsweise verabreicht werden. Ich denke, das wird die Entwicklung sein, die da kommt.

Klingt nach einer eher düsteren Zukunft.
Ich glaube, jeder Blick auf Zukunft und auf Utopien ist immer ganz schwer einzuschätzen für Zeitgenossen derer, die diesen Blick tätigen; zu sehen, ob das düster oder hell sein wird. Bei allen technologischen Entwicklungen sind in Deutschland da erst mal massive Ängste. Bei den US-Amerikanern ist es tatsächlich so, dass diese Frage überhaupt nicht gestellt wird. Bei denen heißt es: eine technische Verbesserung? Selbstverständlich! Eine Verbesserung des Gehirns? Selbstverständlich! Die Fähigkeit des Menschen besteht im Wesentlichen darin, dass er sich wirklich an alles gewöhnen kann. Insofern werden wahrscheinlich unsere Nachfolge-Generationen den „Menschen 2.0“, der da kommen mag, als vollkommen selbstverständlich hinnehmen.

Aber vom Transhumanismus sind wir dann doch noch ein paar Jahre entfernt?
Das ist schwer zu sagen. Ray Kurzweil, der Haupt-Vorkämpfer des Transhumanismus in Nordamerika, setzt ja in seiner persönlichen Lebensplanung alles daran, möglichst viel gesunde biologische Substanz seines Körpers so lange wie möglich zu erhalten, damit er diesen Moment der „Singularity“, wie er das nennt, noch erleben wird. Und Kurzweil sagt, wenn die Technologie sich so schnell, so exponentiell weiterentwickelt – vor allen Dingen auf der digitalen Seite – wird man im Jahr 2030 eine Mensch-Maschine entwickeln können, die vom Menschlichen bald nicht mehr zu unterscheiden ist. Aber das ist schwer einzuschätzen. Ich kann da auch immer nur mit dem Blick in die Vergangenheit sagen: Wenn man vor 10 oder 15 Jahren jemandem gesagt hätte, dass jeder Fünftklässler ein Handy in der Tasche tragen wird – was wir heutzutage als normal erachten – dann hätte er gesagt: unmöglich, das kostet 20.000 Euro, das kann ja gar nicht sein. Heute ist es ein Alltagsgegenstand. Also, die Entwicklung geht tatsächlich rasend schnell.

Aber das würde auch bedeuten, dass die Entmenschlichung, die wir heute bereits feststellen, immer weitergehen würde.
Die Transhumanisten bezeichnen das ja nicht als Entmenschlichung. Sie sagen, das ist eine upgedatete Version Mensch. Die ist besser, die ist schneller, sie ist möglicherweise durch die Chance, Kontakte in Echtzeit via digitales Hirn herzustellen, auch moralischer, empathischer. Ich glaube, das ist eine Frage der Sicht. Aus der gegenwärtigen Zeit scheinen uns solche Visionen immer wie Horrormodelle. Man kann das auch gut am medizinischen Fortschritt sehen. Was die Medizin im Moment gerade im Bereich des Gehirns in der Lage ist zu leisten. Wenn jemand eine Krankheit wie Parkinson oder Alzheimer hat und die Möglichkeit hätte, mit einem Gehirnschrittmacher die Symptome zu beseitigen, dann gäbe es nur eine Minderheit, die dann sagt, ich mache das nicht.

Und auch Gott ist dann eine Maschine?
In dem Modell einer automatisch per Superhumanismus ablaufenden Evolution, wo die Evolution also auf die technologische Ebene springt, findet Gott natürlich nicht statt. Wobei jemand wie Ray Kurzweil sich da auch sehr raffiniert aus der Affäre zieht, weil er sagt, die Vereinigung sämtlicher Gehirne der Menschheit zu einem Supergehirn ist das, was Hegel oder andere als Allbewusstsein beschreiben würden. Das ist der konsequente Schritt zur kompletten Erleuchtung. Da würde die religiöse Komponente durch die Hintertür schon wieder dabei sein. Das ist eine Frage des Standpunkts.

Das klingt nach Buddhismus.
Ja, das ist eine Art Turbo-Buddhismus.

„Clockwork Orange“ | So 7.4. 19 Uhr (P) | Grillo Theater Essen | 0201 8 12 22 00

INTERVIEW: PETER ORTMANN

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