Der erste Blick wandert durch einen schwarzen Raum. Wände wie Schultafeln, die zum Kritzeln anregen oder auch zum Wegwischen. Dan Perjovschis „Chalk Reality2“ (2010) hat einen Leitspruch: „More Content – Less Chalk” (mehr Inhalt, weniger Kreide), und genau dies wird hier durch zugefügte Kritzeleien und Wischungen konterkariert. Aber der Rumäne setzt sich auch kritisch mit dem Kunstmarkt auseinander, als Bezug zur Konsumorientierung des Kapitalismus. An einer der beiden Eingangstüren hat er seine künstlerische Haltung gekreidet, mit der er sich seit Jahren erfolgreich dem Kunstmarkt entzieht: „This Work is part of no collection and no Stiftung. This drawing is fully mine”.
Das Museum für Gegenwartskunst in Siegen hat sich dennoch der eher stillen Kunst, der Zeichnung verschrieben. Auf über 1.400 Quadratmetern werden die zeichnerischen Tendenzen der Gegenwartskunst seit den 1960er Jahren gezeigt, und es sind gerade die seriellen, erzählenden, beschreibenden und mythologisierenden Arbeiten, die den enormen Reiz dieser Überblicksausstellung ausmachen, in der 41 sehr interessante internationale Künstlerinnen und Künstler gezeigt werden. Gehen wir weiter durch die verschachtelten Räume des Museums. Gleich nach der Installation von Perjovschi erfreuen kleinformatige Obszönitäten von Tracey Emin „I used to have such a good imagination“ (1997), und dann als erster historischer Rückblick die bekannte Künstler-Position des Amerikaners Cy Twombly (Jg.1928), von dem zwei doch ungewöhnlich unterschiedliche „Untitled“ von 1959 und 1961 zu sehen sind. Er hat bereits früh damit begonnen, die Sehgewohnheiten der Betrachter zu ignorieren, seine Zeichnungen mit Bleistift und Grafit überschreiten visuell jedes Blattformat, zwingen zur Auseinandersetzung mit Leere und Zwischenräumen. Selbst das Museum, angefüllt mit fremden Welten, comicartigen Bildergeschichten, ja selbst knatschbunten Pastellstift-Arealen, kann der greifbaren Stille auf Twomblys Werken nichts anhaben.
Genauso geht es den zehn unbetitelten Blättern von Hanne Darboven auch. Auch sie leben von der statischen Gleichförmigkeit unleserlicher Schriftzüge, wie sie auch aus ihren Tagebucheinträgen bekannt sind. Auch sie existieren ohne Substanz in der materiellen Welt, sie transportieren über Schrift keine Information, das Diagramm dient lediglich der Sichtbarmachung der Prozesshaftigkeit von Linien. Im Gegensatz dazu steht die Zeichnung auch als ein spontanes künstlerisches Medium, das weltumspannend auch immer schon die Alltäglichkeit durchdrungen hatte, heute selbst das Medium Video erreicht hat, wie bei Jokeanima (2010) des Berliner Künstlers Peter Radelfinger, der Doppelprojektionen animierter Zeichnungen mit dem Projektor an die Wände wirft. Ungebeamt riesig sind die Tintenzeichnungen von Ralf Ziervogel. Drei mal zehn Meter ist das Bild „endeneu2 (2008), das einen Totenschädel an der oberen Kante zeigt, dessen langer Linienbart die gesamte restliche Fläche ausfüllt. Durch die enorme Anzahl von Linien, erstaunlicherweise in einem Zug gezogen, gerät der Schädel in den Hintergrund, das Papier bleibt, dank einer Sonderanfertigung aus Italien kaum beansprucht, eine meditative Arbeit, wenn da nur nicht die kleine lebensgroße Fliege mit draufgezeichnet wäre.
„Je mehr ich zeichne“ I bis 13. Februar
Museum für Gegenwartskunst, Siegen I 0271 405 77 10
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