Die Hauptdarstellerin ist nicht so recht anwesend. Von Lehmbrucks „Kniender“, dem 1911 als Gips entstandenen und schon bald als Steinguss gegossenen Hauptwerk des bedeutenden deutschen Bildhauers zwischen Symbolismus und Expressionismus, besitzt das Lehmbruck-Museum lediglich eine posthum gegossene Bronze von 1925 und einen noch späteren Gipsguss mit lackartigem Überzug (1947). Steingüsse zu Lebzeiten befinden sich in Buffalo, Norfolk und New York. Und so sehr die „Kniende“ ein Meisterwerk von Wilhelm Lehmbruck und repräsentativ für die damalige Zeit ist: Grandioser ist vielleicht doch der (immerhin in die Schau integrierte) „Aufsteigende Jüngling“ aus der Duisburger Lehmbruck-Sammlung. In ihm ist der Expressionismus bereits vollzogen, er ist viel radikaler und ätherischer als die „Kniende“. Er ist 1913/14 entstanden – nach der jetzigen Jubiläumsausstellung aber wird das Lehmbruck Museum dann kaum eine solche Feierstunde noch einmal zu Lehmbruck veranstalten können.
Die Idee, anhand eines einzelnen, zentralen Kunstwerks eine Ausstellung zum Kontext zu generieren, ist in Duisburg nicht ganz neu. 2010 – noch unter Christoph Brockhaus als Direktor – bildete Giacomettis „Frau auf dem Wagen“ den Ausgangspunkt, damals bezog sich die Schau freilich auf Giacomettis Werk selbst; sie führte die vier existierenden Fassungen dieser Skulptur erstmals zusammen. Der Ansatz der Ausstellung zu Lehmbrucks „Kniender“ geht in eine andere (gewiss auch populärere) Richtung – und das macht diese Schau in jedem Fall zu einem Erlebnis. 1911 hatte Wilhelm Lehmbruck (1881-1919) sein Atelier in Paris. Die Ausstellung präsentiert nun anhand herausragender, exemplarischer Werke den künstlerischen und kulturellen Kontext dieser Zeit und versucht so, die Geheimnisse der knienden weiblichen Figur zu lösen oder jedenfalls zu benennen. Das beginnt schon mit der Körpergröße. Im Abwinkeln der Beine ist die „Kniende“ lebensgroß; sie würde also in der Aufrichtung den Betrachter deutlich überragen.
Die Duisburger Ausstellung geht anhand vergleichender Werke von Lehmbruck selbst und seinen Zeitgenossen der Körperhaltung und der plastischen Konstitution nach, untersucht Gestus und Gebärde und deckt Bezüge zu Tanz und Ballett auf und bedenkt dabei alle Kunstgattungen, die Zeichnung sowieso, aber auch Malerei und Porzellanguss, Fotografie und Film, weiterhin Mobiliar. Das Klima dieser Jahre mit dem Nebeneinander von Konvention und Avantgarde, Wohnen, angewandter Kunst und freier Kunst wird anschaulich. Aber schon für die Leihgaben lohnt der Besuch der Ausstellung, dazu gehören etwa der „Kuss“ von Brancusi oder „Die Sitzende“ von Gaudier-Brzeska oder die Bronzen von Matisse … Also eine bedeutende Schau, bei der schließlich das Geburtstagskind immer unwichtiger wird. Es ist ja, streng genommen, gar nicht da.
„100 Jahre Kniende“ I bis 22.1.2012 I Lehmbruck Museum,
Friedrich-Wilhelm-Straße 40, Duisburg I www.lehmbruckmuseum.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Jede Butze ein Kunstwerk
„City Atelier“ in Duisburg
Plötzlich in Bewegung
Ausgezeichnet mit dem Wilhelm-Lehmbruck-Preis: Rebecca Horn in Duisburg – kunst & gut 01/18
Maß aller Dinge
Jana Sterbak im Lehmbruck Museum in Duisburg – kunst & gut 05/17
Text unter den Füßen
Danica Dakić in Duisburg – Ruhrkunst 03/17
Haut und Körper
„An der Oberfläche_On Surface“ im Lehmbruck Museum in Duisburg – kunst & gut 09/16
Im Kreis
Jeppe Hein in Duisburg – Ruhrkunst 08/16
Andere Identitäten
Lynn Hershman Leeson in Duisburg – Ruhrkunst 05/16
Alle Sinne
Dialog mit der Kunst in Duisburg – RuhrKunst 02/16
Eine Figur aus vielen Teilen
Antony Gormley im Lehmbruck Museum in Duisburg – kunst & gut 01/15
Krieg in drei Dimensionen
„Zeichen gegen den Krieg“ in Duisburg – RuhrKunst 10/14
Auf Augenhöhe
Karin Sander auch in Duisburg – Ruhrkunst 05/13
Im Einklang mit der Natur
Das LehmbruckMuseum in Duisburg stellt den „Brücke“-Maler Otto Mueller vor – Ruhrkunst 12/12
Nudel, Mops und Knollennase
Loriot in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen – Ruhrkunst 03/25
Hannibal, ungeschönt
Latefa Wiersch im Dortmunder Kunstverein – Ruhrkunst 03/25
Gewebt, geknüpft, umwickelt
Sheila Hicks in Bottrop – Ruhrkunst 02/25
Wovon Bunker träumen
„Radical Innovations“ in der Kunsthalle Recklinghausen – Ruhrkunst 02/25
Auf Augenhöhe
Deffarge & Troeller im Essener Museum Folkwang – Ruhrkunst 01/25
Runter von der Straße
Graffiti-Künstler im Märkischen Museum Witten – Ruhrkunst 01/25
Die Dinge ohne uns
Alona Rodeh im Kunstmuseum Gelsenkirchen – Ruhrkunst 12/24
Strich für Strich
„Zeichnung: Idee – Geste – Raum“ in Bochum – Ruhrkunst 12/24
Hinter Samtvorhängen
Silke Schönfeld im Dortmunder U – Ruhrkunst 11/24
Keine falsche Lesart
Ree Morton und Natalie Häusler im Kunstmuseum Bochum – Ruhrkunst 11/24
Gelb mit schwarzem Humor
„Simpsons“-Jubiläumschau in Dortmund – Ruhrkunst 10/24
Die Drei aus Bochum
CityArtists in der Wasserburg Kemnade – Ruhrkunst 09/24
Roter Teppich für das Kino
Kino- und Filmgeschichte des Ruhrgebiets im Essener Ruhr Museum – Ruhrkunst 08/24