Der Schotter spritzt unter unseren Reifen. Pia drosselt langsam die Fahrt. „Die entscheidende Frage ist: Vorder- oder Rücksitz? Vorne ist sicher, hinten bequem – aber verräterisch!“ Pias delikate Einführung in die explizite Parkplatzkunde ist eindeutig, ganz anders als die Geschichte, die mir die 32Jährige erzählen wird. Zur Seite springen, fremdgehen, oder kurz: Betrug. Emotionaler Betrug. Es sind seltsam unscharfe Zuschreibungen für eine nicht nur in diesen Breitengeraden gängige Kulturtechnik: Einer teilt mit einem Dritten Zeit und Intimität, heimlich, verschweigt es dem Zweiten, dem offiziellen Geliebten. Moralisch verwerflich das, mit klar verteilter Schuld. So die gängige Lesart. Es ist ein kalter, unangenehmer Herbsttag. Nieselregen perlt sanft auf der Windschutzscheibe. Inzwischen steht der Wagen auf dem Parkplatz. „Ich war damals seit sechseinhalb Jahren mit Karl zusammen, glücklich, wie ich dachte, monogam auf jeden Fall.“ Pias entschlossener Augenaufschlag zeigt die Größe ihrer Augen, braun sind sie. Ich bin der Erste, dem sie die ganze Geschichte erzählt. Zufällig lernt sie ihn kennen, den geheimen Dritten, der an dieser Stelle namenlos bleiben soll. Als Grafikerin verpasst Pia seinem Handwerksbetrieb eine neue Außendarstellung. Sie trifft ihn wieder. „Ein wahnsinniger Rausch, noch nie hatte ich eine solche sexuelle Anziehung gespürt, magnetisch.“ In dieser Nacht belügt Pia ihren Freund das erste Mal. Als sie mit Karl in den Urlaub aufbricht, bekommt sie am Flughafen eine SMS von ihrem Geliebten. „Komm’ zurück, ich zahle alles!“ Wenn sie spricht, tanzen die Sommersprossen in Pias Gesicht. Pikant wird sein großzügiges Angebot mit dem Wissen, dass er verheiratet ist, zwei Kinder hat. Pia stellt die Standheizung an. Auf dem Parkplatz im Grünen stehen mittlerweile fünf Autos. „Als wir öfter hier waren, um Sex zu machen, wurde mir klar, dass es eine Parallelwelt von Betrügern gibt, dass viele so sind wie wir. Hinter beschlagenen Scheiben sitzen Menschen, die kein gemeinsames Bett haben.“ Im Schritttempo fahren sie in jenem kalten Winter an parkenden Autos vorbei. Man nickt sich dezent zu, sie fahren fünf Meter weiter.
AUS DEM AUGENWINKEL SIEHT PIA, DASS ER SCHNELL SEINEN EHERING ABZIEHT
Wir sitzen in der Lounge eines Mittelklassehotels, trinken Milchkaffee, wärmen uns auf. „Als ich irgendwann keine Lust mehr hatte, im Auto zu frieren, sind wir hier gelandet, für sechzig Minuten.“ Fünf Häuser neben Pias und Karls gemeinsamer Wohnung – wie sie empört hinterherschiebt. Ihr schlechtes Gewissen meldet sich auch heute noch. Die schweren schwarzen Ledersessel ächzen leise bei jeder Bewegung. „Mit Frühstück?“, fragte die Studentin damals an der Rezeption. Pia überlegte extra lange, hörte sich selbst sagen: „Ich glaube, ohne.“ Die Studentin lächelt wissend. Aus dem Augenwinkel sieht Pia, dass er schnell seinen Ehe- ring abzieht. Als seine Familie wegfährt, verbringen sie die erste gemeinsame Nacht. „Wir hatten Sex in dem Ehebett.“ Schräger geht’s kaum. Pia schüttelt ihren Kopf, lange blonde Locken fallen in ihr Gesicht.
Jedes Treffen mit ihm ist eine Herausforderung, lebt und arbeitet er doch mit seiner Frau. Ein geheimes, zweites Leben will also gut geplant sein. Er bestimmt Zeit und Treffpunkt. „Wenn eine SMS kam, habe ich sofort die Arbeit unterbrochen, auch in Karls Anwesenheit. Anfangs sieht Pia ihn oft, manchmal dreimal am Tag, für wenige Minuten. Der Deal ist: Sie darf ihn nicht anrufen. Nur einmal bricht Pia ihn. „Meine Sonnenbrille. In deinem Auto. Rechts vorne.“ Dann legt sie auf. Pia begleitet ihren nicht mehr ganz so heimlichen Geliebten zur Bank, ins Autohaus, zum Herrenausstatter, trifft ihn auf dem Weihnachtsmarkt. Sie ernten verschwörerische Blicke. Die Risikobereitschaft der beiden wächst. Sie haben Sex im Keller seiner Mutter, kurz bevor er die von Oma gebackene Geburtstagstorte seinem Sohn im Kindergarten überreicht, „mit Herzen aus Vollmilchschokolade.“
ZWEIMAL IM MONAT TREFFEN SIE SICH ZUM SEX, SPORADISCH TRINKEN SIE KAFFEE
Pias anfänglicher Seitensprung ist längst eine Nebenbeziehung. Sie lügt, als sie mit Knutschflecken nach Hause kommt („Die Tochter meiner Freundin, du weißt doch!“), er übt sich in Ignoranz: keine weiteren Fragen. Länger schon hat das Paar kein gemeinsames Projekt, keine Herausforderung, „wir hatten noch nicht mal ein Problem“, sagt Pia leise. Irgendwann nimmt sie die Pille wieder. Dennoch wird Pia das Gefühl nicht los, dass Karl es längst weiß, es wissen muss! Sie überlegt. „Vielleicht habe ich mir gewünscht, dass er es merkt, endlich kämpft, mir zeigt, dass mein Platz an seiner Seite ist!“ Als hätten sie einen Pakt geschlossen, schreiben Pia und Karl jedoch zusammen das letzte, widersprüchliche Kapitel ihrer Liebe; das von Verrat und stillem Einverständnis handelt, von Agonie und Ausbruch, von Mut zum Risiko und Feigheit vor der Wahrheit. Ein Ende, mal traurig, mal lebendig. Ganz nach Blickwinkel. Gemeinsam ist ihnen nur noch die Sprachlosigkeit. An der Rezeption wechselt die Schicht. Die pastellfarbenen Wände haben etwas Beruhigendes, der Teppichboden dämpft Pias intensive Worte. Angst? Feigheit? Scham? Pia findet keine Antwort auf meine Frage, warum sie bis heute schweigt. Wohl auch, weil sie weiß, wie schmerzhaft eine solche Botschaft ist. Nach anderthalb Jahren liest sie den Brief einer Frau an Karl. Pia braucht drei Jahre, bis sie seine Nacht mit einer anderen verdaut hat, verliert 20 Kilo in dieser Zeit. Sie lacht schüchtern. „Ich war mir sicher, mir passiert so etwas nie.“ Wir sitzen in der geräumigen Küche von Pias neuer Wohnung, blicken aufs Tal. Die Wände sind noch etwas kahl, Pflanzen fehlen. Nach einem Jahr aufregendem und aufreibendem Doppelleben zieht sie die Notbremse. Pia sagt: „Ich verlasse dich, ich liebe dich nicht mehr.“ Karl antwortet: „Aber das ist doch kein Grund.“ Pias Trennung löst bei ihrem Liebhaber eine Krise aus. Er distanziert sich für eine Weile. Nun treffen sie sich seltener. Zweimal im Monat zum Sex, sporadisch trinken sie Kaffee zusammen, zieht sie eine nüchterne Bilanz. „Nein,“, sagt Pia, „ein Paar sind wir nicht.“
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