Es klingt nach einer ungewöhnlichen Frage für die Erstellung eines Passes. „Was zeichnet Sie aus?“ Offenheit oder Freundlichkeit, das sind die Standard-Antworten, die den Menschen in dieser kleinen Anstellschlange einfallen. Am Hans-Schalla-Platz vor dem Schauspielhaus Bochum verteilen OrganisatorInnen des „European Balcony Projects“ Personalausweise, die alle Menschen Europas als BürgerInnen Europas ausweisen. Nicht amtlich, eher als künstlerische Utopie für die Hosentasche.
Eine Utopie haben Ensemblemitglieder des Schauspielhauses und Neu-Intendant Johan Simons wenige Minuten zuvor auch auf dem Balkon des Stadttheaters ausgerufen: „Es lebe die europäische Republik!“ Das Manifest, das sie in verschiedenen Sprachen vorlesen, stammt von der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und dem Schriftsteller Robert Menasse. Bundesweit wurde es um Punkt 16 Uhr proklamiert, mehr als 150 europäische Kulturinstitutionen haben an der medienwirksamen Inszenierung teilgenommen. Bilder und Tweets wurden fast zeitgleich über eine Homepage des Projekts verbreitet.
In Bochum fiel der Startschuss der Aktion am Platz des europäischen Versprechens. Hier, wo Robert Menasse im Mai in der Christuskirche aus seinem Erfolgs-EU-Roman „Die Hauptstadt“ las und anschließend für ein europäisches Einigungsprojekt plädierte. Der Preisträger des letztjährigen deutschen Buchpreises hat gemeinsam mit dem Schweizer Theaterregisseur Milo Rau das „European Balcony Project“ initiiert. Die Idee: Kunst und Politik sollen gemeinsam für eine demokratisches Europa werben, das die Nachfolge der Nationalstaaten antritt. So heißt es in dem Manifest: „(...) Das Europa der Nationalstaaten ist gescheitert. Die Idee des europäischen Einigungsprojektes wurde verraten. (...) An die Stelle der Souveränität der Staaten tritt hiermit die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger. Wir begründen die Europäische Republik auf dem Grundsatz der allgemeinen politischen Gleichheit jenseits von Nationalität und Herkunft. Die konstitutionellen Träger der europäischen Republik sind die Städte und Regionen. Der Tag ist gekommen, dass sich die kulturelle Vielfalt Europas endlich in politischer Einheit entfaltet. (...)“. Hundert Jahre, nachdem Philipp Scheidemann im Reichstag sein Mittagessen unterbrach, um die Weimarer Republik auszurufen, erscheinen Happenings, die etwas Globales, etwas, das die nationale Souveränität transzendiert, en vogue. Milo Rau stellte etwa im Oktober 2017 den Sturm auf dem Winterpalast nach. Sein Reenactment vor dem Bundestag zog viel mediale Aufmerksamkeit auf sich: JournalistInnen stellten ihre Kameras auf und Milo Rau gab munter Interviews, in denen er über die Notwendigkeit einer globalen, demokratischen Souveränität in Zeiten gesellschaftlicher Verwerfungen, die eine globalisierte Welt mit sich bringt, referierte.
Was ist noch Kunst, was bereits Politik? Mit dieser Grauzone wird bei solchen Aktionen gerne gespielt, auch bei der Kunst-Demo, die nach der Eröffnungskundgebung über den Konrad-Adenauer-Platz bis zum Schauspielhaus durch die Bochumer Innenstadt zog. Da erhoben sich in EU-Fahnen umschlungene Demo-Teilnehmer auf Kästen und proklamierten wohlfeile Sätze wie „Europäer ist, wer Europäer sein will!“ Oder: „Das europäische Parlament hat gesetzgebende Gewalt!“ Die Proklamationen aus dem Manifest wiederholte bereits ein Chor am Willy-Brandt-Paltz, während die Europa-AG der Erich-Kästner-Schule vom Rathaus-Balkon anprangerte: „Europa steht in der Schuld vieler Länder.“ Eine durchinszenierte und orchestrierte Aktion. Redezeit erhielt auch Bochums Oberbürgermeister Thomas Eiskirch, eher neoliberaler Sachverwalter als bürgernaher Utopist. Kritische Stimmen blieben auf der Demo nicht aus. AktivistInnen der Bewegung Seebrücke entrollten etwa ein Transparent mit der Aufschrift „Shame on you, Europe“. Das gehörte nicht zur Inszenierung.
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