Es war eine einmalige Rekonstruktion. Die Ausstellung im Essener Museum Folkwang „Das schönste Museum der Welt“ ging jetzt zu Ende. Zu sehen war die Folkwang-Sammlung, welche die Stadt Essen einst von Karl-Ernst Osthaus erworben und um eigene Ankäufe ergänzt hatte. Diese Sammlung besonders zur Kunst der Moderne war bis 1933 im Museum Folkwang ausgestellt, ehe sie mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten als „entartet“ beschlagnahmt, zerstört oder in alle Welt zerstreut wurde. Nun also, knapp nach der Eröffnung des Neubaus von David Chipperfield, sind die Meisterwerke von Van Gogh, Marc Chagall, Wassily Kandinsky oder den deutschen Expressionisten als Leihgaben für einige Monate wieder vereint gewesen. Aber geht Essen nach Ende dieser zentralen Ausstellung zur Mitte des Kulturhauptstadtjahres die Puste aus? Nein, mitnichten, das Engagement in der Kunst wendet sich derzeit – weniger spektakulär, aber nicht minder interessant – der Gegenwart zu, gleich an mehreren Orten in und um Essen mit dem Museum Folkwang wie auch der Zeche Zollverein als eigentlichen Zentren. Oder als „Basis“, wie dies Sabine Maria Schmidt, Kuratorin für die zeitgenössische Kunst am Museum Folkwang, in Bezug auf die zwei Räume zum aktuellen Projekt „Hacking the City“ formuliert hat. Dieses findet im Wesentlichen im Außenraum statt, aber zwischen Labor und Baustelle erweist sich die Präsentation im Museum als vibrierendes Statement. „Hacking the City“ ist alles andere als ein statisches Konstrukt, so laufen einzelne Aktionen inmitten der Stadt unangekündigt ab, die Homepage begleitet topaktuell die Aktivitäten. Es geht darum, (städtebauliche, gesellschaftliche) Strukturen bloßzulegen und auf Problemstellen aufmerksam zu machen, dafür geht die Kunst zur Bevölkerung und bezieht diese ein. Einige der beteiligten Künstler: M + M, die mit einem Fiat, mit dem sie Michelangelo Antonionis Film „Rote Wüste“ zitieren, vor Konzernzentralen Demonstrationen hervorrufen wollen; Georg Winter, der zu Ausstellungsbeginn eine „Augentrost-Ambulanz“ zur Reinigung der überanstrengten Augen angeboten hat, und die Künstlergruppe Bitnik, die Überwachungskameras anzapft und deren Aufnahmen befragt. Aber nicht nur bei „Hacking the City“ verknüpft das Museum Folkwang Kunst und öffentliche Erfahrungen im urbanen Umfeld: Derzeit ist hier noch die Fotoausstellung „A Star Is Born“ zu sehen. Gegenstand der Fotografien sind die Pop- und Rockstars seit den 1950er Jahren, einige der Aufnahmen haben unsere Vorstellung von ihnen geprägt und sind Teil unserer Erinnerung geworden. Ausgestellt sind außer den Fotos in dichter, vergleichender Hängung Zeitschriften, Plattencover wie auch Videos. Musiker und Bands wie die Rolling Stones oder Iggy Pop posieren fürs Portrait oder sind stimmungsintensiv im Konzert fotografiert; IMMER WIEDER ESSEN NACH DEM „SCHÖNSTEN MUSEUM DER WELT“: AUSSTELLUNGEN IM INNEN- UND AUSSENRAUM IN ESSEN unvermeidlich ist die Ausstellung unvollständig, aber zu sehen gibt es genug. Und die fotografischen Bilder bestätigen sich ebenso als Zeitdokumente, Mechanismen zur Idolbildung wie auch als Kunstwerke mit eigener Handschrift. Dabei geht es noch um die Macht der Bilder, als Vergegenwärtigung und Reflektion unserer Alltagkultur. NICHT NUR DOKUMENTE Bleiben wir bei der Fotografie und zwar am Rand der Zeche Zollverein, wenige Schritte vom Ruhr Museum entfernt. Der erste Neubau auf dem ehemaligen Zechengelände ist ein riesiger weißer Kubus des japanischen Architekturbüros SANAA, markant in der verschobenen Anordnung von 134 Fensteröffnungen. Dort ist als Projekt der Sparkassen- Finanzgruppe die Ausstellung „Ruhrblicke“ zu sehen. Grundlage waren nicht etwa existierende Kunstwerke, vielmehr wurde eine Aufgabe vorgegeben, die fotografische Wahrnehmung des Ruhrgebiets. Beteiligt sind an der Schau elf wichtige Künstler, die mit der Region auf unterschiedliche Weise verbunden sind. Neben der souveränen Joberfüllung, die der eigenen Konzeption entspricht, etwa von Candida Höfer oder Jitka Hanzlová, sind so tiefgründige Beiträge entstanden wie die Fotografien von Ruhrgebiets-Bürgermeistern durch Hans-Peter Feldmann oder der „Speicher“ von Jörg Sasse, der das Bildmaterial aus anonymen Fotoalben wie auch eigene Fotos digital bearbeitet und dann unter unterschiedlichen Kategorien archiviert hat, oder die für diese Künstler vielleicht überraschenden Fotoarbeiten von Andreas Gursky und Thomas Struth. Gerade aus diesen subjektiven Annäherungen an das Ruhrgebiet und seine Temperierungen aber ist eines der bemerkenswertesten Fotografie- Projekte in Ruhr.2010 entstanden. Auch weil es den Alltag, die Landschaft und die Peripherie weiter in den Blick rückt. TAGE IM GRÜNEN Dies ist auch ein Anliegen der großen Außenprojekte, die sich, mit „Hacking the City“ als dynamischem Beitrag, in Essen oder den umliegenden Städten ausgebreitet haben. Dazu zählen „B1 | A40 Die Schönheit der großen Straße“ im Stadtraum der A40 von Duisburg bis Dortmund (bis 8.8.); dann „Emscherkunst“ auf der sogenannten Emscherinsel zwischen Oberhausen und Castrop-Rauxel (bis 5.9.); weiterhin „Über Wasser gehen“, mit Installationen für zwölf Orte an der Seseke und ihren Zuflüssen (bis 26.9.), und das „Ruhr-Atoll“ mit schwimmenden Kunst-Inseln auf dem Essener Baldeneysee (bis Oktober). Zu den Ereignissen dieser Wochen gehört auch die ISEA, die als wichtiges Festival für Elektronische Kunst in der zweiten Hälfte August mit Vorträgen, Ausstellungen und Konzerten in Dortmund und Duisburg und auch in Essen stattfindet ... Aber dann ist einem wieder nach Innehalten zumute. In Essen wurde vor wenigen Wochen die Alte Synagoge als Haus jüdischer Kultur – in unmittelbarer Nähe des Münsters – eröffnet. In der beeindruckenden Architektur fächert die dortige Ausstellung die jüdische Kultur auf, die über die Bewussthaltung der Judenverfolgungen und die Schilderung der religiösen Riten und Feste hinaus zeitgenössische jüdische Identität und Lebensstil auf bisweilen heitere Weise vor Augen führt. 1913 eingeweiht, dann im Novemberpogrom 1938 gebrandschatzt und schwer beschädigt wurde die Synagoge nach dem Krieg lange als Ruine belassen, dann behelfsmäßig rekonstruiert und erst 1980 als städtisches Kulturinstitut und Gedenkstätte für die Öffentlichkeit eingerichtet. Der Beschluss, die Alte Synagoge zu einem kulturellen Zentrum mit einer Ausstellung zu erweitern, stammt aus dem Jahr 2001 und wurde nun mit Unterstützung vieler, besonders des Landes NRW, umgesetzt. Nebenbei, die Alte Synagoge gehört zu den größten Kuppelbauten nördlich der Alpen und ist heute der einzige freistehende große Synagogenbau in Deutschland. Feierlich und ganz unaufgeregt ist sie ein Ort des Rückzugs und der Konzentration, und das mitten in der pulsierenden Großstadt.
Hacking the City I bis 26.9. I und A Star Is Born bis 10.10. im Museum Folkwang in Essen www.museum-folkwang.de/www.hackingthecity.org
Ruhrblicke, Ein Fotografieprojekt der Sparkassen-Finanzgruppe I bis 24.10. im SANAA-Gebäude, Zeche Zollverein in Essen I www.ruhr2010.de
Alte Synagoge Essen – Haus jüdischer Kultur I Steeler Straße www.alte-synagoge.essen.de
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