Gibt es eine Verbindung zwischen allen Dingen, gibt es Linien, die uns mit Natur und Materie verbinden? Wenn man die Ausstellung „Ilk“ (altengl.: die Verbindung von allem) im Essener Folkwang Museum gesehen hat, ist man mit dieser Frage vielleicht einen Schritt weiter gekommen, da hat man Spuren möglicher Antwort entdeckt, die die belgische Künstlerin Catharina van Eetvelde gefunden hat. Zeichen und Zeichnungen, die die Welt erklären wollen, die nicht allein künstlerisches Tun, sondern auch ein künstlerische Haltung manifestieren wollen.
Am Anfang hängt ein schwarzer Gummihandschuh („egg_contrapunctus“) auf der Leine. Rundherum 18 Pappschachteln nebst Inhalt, zum Teil elektrisch angetrieben. Immer geht es um das Lineare an sich, schon seit ihrer frühsten Kindheit, Zeichnen als Lebensinhalt, Zeichnen als Bestimmung, aber Zeichnen auch als künstlerisches Be-Zeichnen von Dingen, Handlungen, Sinneseindrücken. Dafür löst die Künstlerin das Material vom Papier, das Graphit aus der Linearität heraus. Der gerahmte Raum zeigt Vielfältiges, lässt den Begriff des Zeichnens im Nebel aus Materie verschwinden.
Die einzelnen Arbeiten scheinen erst einmal collagenhaft unfertig, Büroklammern halten sie provisorisch zusammen, die Pappschachteln verweisen auf Transport und Lagerung. Catharina van Eetvelde zeigt uns Pläne ihrer Gedanken, Diagramme von Gegenständen, deren Maßeinheit der Betrachter allerdings nicht erkennen kann. Die meisten Papierarbeiten erhalten zusätzlich etwas, was Zeichnungen normalerweise nicht haben – Haptik, Dreidimensionalität. In Computerbildschirmen sind sie auch digital existent, bleiben aber ein chaotisches System und damit unvorhersehbar. Doch welchen Kosmos bearbeitet die Künstlerin da? Und hatte der schwarze Gummihandschuh etwas mit Bernhard Egg, Illustrator bei Hans Merian zu tun, mit komprimierten Archivdateien, oder ist es doch mehr eine Analogie auf eine hinterfragbare Autorität von Wissenschaft?
2012 wurde sie im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojektes „Call it anything“ mit der Katastrophe von Fukushima in Japan konfrontiert. Danach nahm der Anteil an Materie in ihren Arbeiten zu. Dahinter soll die Frage nach der Verbindung zwischen allen Dingen und Lebewesen stecken, doch die Forschung über morphogenetische Felder ist nicht neu. Van Eetvelde wendet die Idee auch auf ihre einzelne Arbeit an, indem die einzelnen Teile ihrer Assemblagen wohl auf einer eigenen Ebene interagieren.
Im nächsten Raum kommt Bewegung in die Sache. Mit augenscheinlicher Spannung schleift ein Kreisel den Boden, kratzt ein Draht die Spur, den imaginären Kreis aus einer endlosen Linie. Der Titel der kleinen objekthaften Installation „I prefer not to“ (Ich würde lieber nicht) verweist auf den kleinen Klumpen, der, am Flügel befestigt, sich über den Boden windet, um nicht mitgezogen zu werden. Hier liegen auch flache Polster zum Verweilen, es brummt undefinierbar aus der Ferne. Ein Stein presst zwei Blätter fest an die Wand des Museums. „Es gibt für mich kein Gefälle zwischen einem Stich von Albrecht Dürer und dem Gekritzel eines Wissenschaftlers“ – dieses Zitat der Künstlerin wird meinen Kopf nie mehr verlassen.
„Ilk“ | bis 14.1. | Folkwang Museum Essen | 0201 88 45 000
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