Was für eine erstaunliche atmosphärische Dichte. Nachdem man die Ausstellung von Andreas Golinski durchschritten hat, möchte man sie mit dem erlangten Wissen erneut sehen. Der Eingang führt in die Dunkelheit, in der mit sparsamen, genau gesetzten Mitteln die Konfrontation mit Unbekanntem und überlieferten Erzählungen und der handwerklichen Realität des Bergbaus evoziert ist. Im Kunstmuseum Bochum führt der Weg über zwei Stockwerke, er aktiviert dabei die Rampe zwischen den Stockwerken und behält doch das Gesamtkonzept im Auge: Vielleicht ist das neben der narrativen Aufladung mit dem Wechsel der Temperierungen die besondere Qualität dieser Ausstellung von Andreas Golinski. Als Teil der Reihe „Kunst & Kohle“ geht sie vom Ende des Steinkohleabbaus mit der Schließung der letzten Zeche im Ruhrgebiet aus, aber das ist nur der Anlass für ein weites Spektrum an Themen und Spekulationen, die hier assoziativ berührt werden.
Dazu hat Andreas Golinski, der 1979 in Essen geboren wurde, das Erdgeschoss in einen langgezogenen, partiell verwinkelten Parcours versetzt. Durch ein kastenartiges Bodenobjekt und eine betretbare metallische Kammer werden Vorstellungen des Klaustrophobischen und eines Vordringens in weitere Tiefe geweckt. Dazu zeigt Golinski erlesene Kunstwerke überwiegend berühmter Künstlerkollegen – teils aus der Sammlung des Museums, teils als Leihgaben – wie etwa die Serie der „Carceri“ von Piranesi und ein Objekt mit Zeichnungen des österreichischen Einzelgängers Walter Pichler, der anspricht, worum es Golinski eben auch geht: eine Reise in die Erinnerung, in das Unbewusste. Daneben deuten sich Ausbrüche aus dem Dunkel als Trost oder Hoffnung an, sei es der Lichtspalt in den Abdeckungen der Wand oder das Vogelgezwitscher, bei dem genau zu überlegen wäre, von woher es stammt. Leitmotiv aber ist der Riss. Vor dem Eingang liegt ein Stapel Zeitungen, der einen solchen inmitten von Gebäudesubstanz zeigt. Vielleicht ist so auch, gedacht in der Aufsicht, der locker sich kräuselnde Vorhang zu verstehen, der den Raum teilt.
Derartige Hinweise tauchen im Stockwerk darüber wieder auf. Hier ist es heller, nun kann man die Reise selbst gestalten, auch wenn es weiterhin etwas labyrinthisch und wenig überschaubar, dafür geheimnisvoll und überraschend bleibt. Die Korrespondenzen gehen mit einer großen Ästhetisierung einher, die auf Wiederholung, Variation und Umkehrung setzt. Das betrifft das filmische Kontinuum eines Risses, welches der Handlungsmacht der Zeichnung folgt. Das betrifft die Skulpturenfelder, die von den industriellen Reststücken aus Holz und Eisen über die Suggestion einer archäologischen Grabungsstätte hin zu den zeichenhaften Metallskulpturen auf Sockeln führen. Und es betrifft die kleinen schwarz gestrichenen Pappen (die noch die Halterungen des Treppengeländers zitieren) bis hin zu den reflektierenden Metallplatten, deren Oberflächen „malerisch“ behandelt sind. Umfangen von diesen ist der separierte stilisierte Ausgrabungsort Herzkammer der Ausstellung. Der Bergbau „unter Tage“ wird zur Metapher für das Museale, das geschützt und erhalten wird bei aller tektonischen Fragilität mit dem Risiko des Risses, der andererseits auch eine Chiffre für den Zustand der heutigen Gesellschaft sein könnte.
Dazu gehört, dass es dann noch ein Stockwerk höher geht, von wo aus man die Installation überblickt und die Ausstellung von Ulrich Erben mit seinen so plastischen Wolken-Fotografien sieht und vielleicht die Dachterrasse mit ihren Skulpturen betreten kann, die als Analogie zu den Skulpturenfeldern von Golinski wirkt... Wie es heißt, hat er ausgehend von den kuratorischen Vorgaben intensiv zum Bergbau mit seinen Stollen für die Ewigkeit und seiner Geschichte im Ruhrgebiet recherchiert und Interviews geführt und seine Erkenntnisse dann bis zur Abstraktheit seines Vokabulars verknappt: als wären die einzelnen Stationen und ihre Materialien mit Energie und Erinnerung, aber auch Visionen vollgesogen.
Andreas Golinski – In den Tiefen der Erinnerung | bis 16.9. | Kunstmuseum Bochum | 0234 910 42 30
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