Die leblosen gelben Körper liegen aufgebahrt in einer Reihe, die pockigen Beine mit den langen Krallen ragen senkrecht in die Luft. Alle Köpfe sind sauber abgetrennt. „Beat it!“ scheppert es aus überforderten Boxen vom Nachbarstand, im Hochland von Chiapas ist Michael Jackson noch ziemlich lebendig. Ein kalter Wind wirbelt den Geruch fauliger Lebensmittelabfälle auf. Über die Situation wacht die Jungfrau von Guadalupe. Die heiligste Heilige des katholischen Mexikos blickt streng von einer Wand, an der sie unter Glas hängt.
Gleich neben dem Hühnchenstand beginnt die Abteilung für Haushaltswaren aller Art, hier auf dem verwinkelten Markt in San Cristóbal. Vorbei an Pfannenwendern und Haargummis, an Lilien und Koriandersträußen, dann steht Jade de la Cruz vor mir. Sie blickt mich verstohlen an, ihre Zahnlücke blitzt in der Sonne. Jade ist neun Jahre alt und hat nicht viel Zeit, auch nicht für Kindheit. Ihr Wecker klingelt in aller Herrgottsfrühe. Um acht Uhr besucht sie die zweite Klasse einer Grundschule, „pünktlich!“, wie sie mit ernster Miene sagt. Direkt im Anschluss geht sie arbeiten. Gemeinsam mit ihren Eltern verkauft sie auf dem Markt CDs mexikanischer Musiker. Wenn der überfüllte Stand aus Holzbrettern schließt, ist die Sonne längst untergegangen. Für Jade hat ein Arbeitstag 14 Stunden.
„Wie geht es dir?“, fragt Jose López, der gekommen ist um Jade abzuholen, „hast du Zeit, mit uns zu spielen?“. Jose ist Streetworker von Melel Xojobal, einem mexikanischen Partner von MISEREOR. Deutsche Spender finanzieren fern der Heimat ein Projekt mit, das sich an indigene Kinder wie Jade richtet. Ein Drittel der mittlerweile 1.000 Straßenkinder in San Cristóbal soll unterstützt werden. Deren Zahl ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen, zusammen mit der Zahl der Einwohner der Stadt. Die meisten der neuen Bürger sind Indígenas, die aus religiösen oder politischen Gründen aus ihren Gemeinden vertrieben worden waren. Diese Familien sind darauf angewiesen, dass ihre Kinder einen Beitrag zum Lebensunterhalt leisten.
Doch auch fast 500 Jahre nach der Conquista, der blutigen Unterwerfung und Kolonialisierung durch die Spanier, ist das Leben der mexikanischen Ureinwohner von Ausgrenzung und Ausbeutung geprägt. „Wir wollen die Lebensqualität der indigenen Kinderarbeiter verbessern, wir sehen sie nicht als Opfer“, fasst Jose die Philosophie von Melel zusammen. „Sie sollen ihre Menschenrechte kennen, und diese gegenüber Lehrern, Polizisten und Behörden selbstbewusst einfordern – nicht mehr bitten und hoffen.“
Melel unterstützt und berät die Kinder in Sachen Bildung, Gesundheit und politische Rechte. Auf dem Markt und an der Kathedrale mit spielerischer Aufklärung. In ihrem Zentrum mit einer Bibliothek und Lesekreisen. Bedürftige Eltern erhalten Schuluniformen und Unterrichtsmaterialien sowie Hilfe bei der komplizierten Ausstellung von Geburtsurkunden, der Voraussetzung für einen Schulbesuch. Melel bietet eine Rechtsberatung an, wenn Kinder Gewalt von Lehrern und Polizisten erfahren.
Ich begleite Jose und Jade zu einer Straßenaktion von Melel, neben dem Markt. Jades karierter Rock wirft mehr Falten als er sollte, die langen weißen Socken sind längst die Beine heruntergerutscht, das Mittagessen hat auf ihrem dunkelgrünen Pullover Spuren hinterlassen. Sie trägt ihre Schuluniform schon seit dem Morgengrauen. Doch Jade klagt nicht. Im Gegenteil. „Es macht mir Spaß, nach der Schule CDs zu verkaufen“, sagte sie unvermittelt. Warum, frage ich verdutzt. „Weil ich Geld verdiene, dass ich dann meiner Mutter geben kann“, antwortet sie stolz. Ist sie abends sehr müde nach solch langen Tagen, möchte Jose wissen. Jade schüttelt den Kopf, bevor sie ihn etwas verlegen zur Seite legt. Ihre müden Augen mit den schwarzen Rändern sagen etwas anderes.
Melel betreut auf dem Markt arbeitende Kinder im Alter zwischen sechs und dreizehn Jahren, einige sind an diesem sonnigen Nachmittag gekommen. Den meisten machen die schlechten hygienischen Bedingungen an ihren Ständen zu schaffen. In der Regenzeit leiden sie an Durchfall und Magen-Darm-Erkrankungen, im Winter an Fieber und Erkältungen. Jose ist hier, um die Kinder für ihren Körper zu sensibilisieren. „Wie pflegst du dich?“, stellt der Pädagoge eine Frage in die Runde und dreht eine Flasche, die auf der Decke liegt. Als sie stoppt, zeigt sie auf Juan Francisco. „Ich esse Früchte und viel Gemüse“, sagt der Neunjährige nach einer kurzen Denkpause. „Sehr gut!“, lobt Jose ihn. Die anderen Kinder beklatschen die Antwort. „Was macht ihr mit euren Händen, um euch zu schützen?“ Nun ist Jade an der Reihe: „Waschen, wir müssen die Hände ganz oft waschen am Tag!“ Dann erzählt sie den anderen von ihrem Traum. „Ich will später Lehrerin werden, nein, lieber Ärztin!“
Wie wichtig die Arbeit von Melel ist, hatte sich erst vor einigen Tagen wieder gezeigt. Wegen einer internationalen Tourismusmesse in San Cristóbal übte die Stadtverwaltung großen Druck auf die Ureinwohner aus. Hinter vorgehaltener Hand hieß es, die ungepflegten Indígenas störten das Straßenbild der pittoresken Kolonialstadt, und die Messebesucher sollten ihre Andenken lieber für ein Vielfaches in einem der edlen Touristenläden kaufen. Die indigenen Kunsthandwerker ließen sich einschüchtern und schlossen ihren Markt für die vier Messetage – ein schmerzhafter Einnahmeverlust für die Familien. Die Pläne der Verwaltung, arbeitende Straßenkinder während dieser Zeit in einem Haus außerhalb der Stadt zu konzentrieren, konnte Melel mit anderen Organisationen verhindern. Soziale Säuberungen sind nichts Ungewöhnliches in Mexiko. Thematischer Schwerpunkt der Tourismusmesse, die Präsident Felipe Calderón eröffnet hatte, war übrigens die indigene Vielfalt im Bundesstaat Chiapas.
Im Angesicht dieser strukturellen Gewalt von Behörden mag die Arbeit von Melel und MISEREOR klein und fragil erscheinen. Die Kontaktaufnahme mit den anfangs misstrauischen Eltern ist langwierig, das Vertrauen der Kinder kann nur vorsichtig gewonnen werden. Beides dauert Wochen, wenn nicht Monate, in denen die soziale Ungleichheit in Mexiko weiter fortschreitet. Sieht er dennoch Erfolge, frage ich den Streetworker. Jose zögert nicht lange, seine Augen strahlen Zuversicht aus: „Unbedingt. Wenn die Kinder uns erzählen, dass sie einen Lehrer verdient haben, der sie ernst nimmt; dass sie sich nicht bedanken müssen, wenn ein Arzt sie behandelt, dann können sie fühlen, dass ihnen ein Leben in Würde zusteht. So wie allen anderen Menschen auch.“
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