Sie gilt als die schönste Zeche der Welt – und für den deutschen Steuerzahler wohl zugleich als die teuerste: das UNESCO-Weltkulturerbe Zeche und Kokerei Zollverein in Essen. Jährlich, glaubt man der Imagebroschüre und den Veröffentlichungen der Stiftung Zollverein, ziehe das Areal mehr als 1,5 Millionen Besucher aus dem In- und Ausland in seinen Bann – pro Tag umgerechnet 4.100. Wer sich die Zeit nimmt, auf dem Gelände zu verweilen, fragt sich jedoch schnell: Wo nur versteckt sich diese große Anzahl von Menschen auf dem oftmals von Leere geprägten Gelände?
Im repräsentativen und extravaganten SANAA-Kubus, der es jüngst als Paradebeispiel für Steuergeldverschwendung in das vom Bund der Steuerzahler herausgegebene „Schwarzbuch“ schaffte, würden so viele Besucher wahrlich auffallen. Der karge Bau, 2006 für eine Privat-Hochschule eröffnet, kostete rund 14 Millionen Euro, bezahlt aus öffentlichen Kassen. Bereits 2007 scheiterte das Hochschulprojekt. Nach nur zwölf Jahren muss der Bau nun für 5,5 Millionen Euro aufwändig saniert werden. Einen Plan, wie er künftig sinnvoll und vor allem wirtschaftlich genutzt werden soll, gibt es nicht.
Einige Schritte weiter, vorbei am markanten Doppelbock, erstreckt sich die mit 68 Metern längste freistehende Rolltreppe Deutschlands zum RuhrMuseum empor. Einer dieser Superlative auf Zollverein, die ablenken von den nackten Zahlen. Prof. Heinrich Theodor Grütter und Prof. Dr. Hans-Peter Noll bemühen sich im Stiftungsvorstand den Standort zu entwickeln. Gespräche mit aktuellen und ehemaligen Akteuren vor Ort schaffen jedoch Zweifel, ob die kommunizierten Besucherzahlen mit der Realität in Einklang zu bringen sind. Nachgefragt, ob es am Ende statt über 1,5 Millionen Gästen nicht mehr als 400.000 Besucher pro Jahr sind, die das Welterbe besuchen, sagt Prof. Noll bei der Pressekonferenz zum NRW-Tag ins Mikrofon: „Also das mag sein.“ Schneller, höher, weiter – das sei am Ende des Tages nicht entscheidend. Die Besucherzahlen dürften es jedoch sein, die Vergleichbarkeit zu anderen Attraktionen der Route der Industriekultur im Ruhrgebiet schaffen und zu Museen und Welterbestätten in Deutschland.
Eine frühere Auskunft von Ute Durchholz aus der Pressestelle der Stiftung, lässt vermuten, dass mit ganz eigenen Zahlen operiert wird: „Die Stiftung Zollverein ermittelt die Besuchszahlen jährlich in einem standardisierten Abfrage-Verfahren. Dabei handelt es sich nicht um eine streng wissenschaftliche Erhebung. (...) Bei den Zahlen handelt es sich daher in Teilbereichen um Erfahrungswerte. Die bei der Abfrage gelieferten Zahlen fließen in die Gesamtsumme ein (...)“ Noch einmal nachgehakt wird es kurios, denn: „Die Einzelwerte werden addiert“, so Durchholz. Im Klartext heißt das: Besichtigt ein Besucher eine Ausstellung, nimmt an einer Führung teil und macht einen Abstecher ins Red Dot Design Museum oder ins Casino Zollverein, kann aus einem einzigen Gast schnell ein Dutzend Besucher werden, die in die Wertung einfließen. Augenwischerei, könnte man meinen, oder der durchschaubare Versuch, das Welterbe künstlich zu beleben – jedenfalls in der Statistik. Fragt sich nur, was die öffentlichen Geldgeber in Düsseldorf und Berlin dazu sagen – und der Bund der Steuerzahler, der Zollverein ohnehin schon auf dem Kieker hat.
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