Die Resonanz auf den Aufruf vor rund einem Jahr war überwältigend: Rund 170 Texte wurden eingereicht. Vera Ring, Chefdramaturgin am Schauspiel Essen, hat gemeinsam mit ihren Dramaturgiekollegen Carola Hannusch, Judith Heese und Marc-Oliver Krampe sowie der Gastdramaturgin Ulrike Gondorf in den vergangenen Monaten also viel gelesen. trailer sprach mit Carola Hannusch, die auch Organisatorin der Mega-Veranstaltung ist.
trailer: Frau Hannusch, wozu brauchen neue Stücke ein vorgegebenes Thema?
Carola Hannusch: Das brauchen sie nicht. Aber wir wollten gerne Stücke zu diesem Thema lesen, da wir unseren Spielplan ganz deutlich auf das Motiv Widerstand ausgerichtet haben. Aber wir haben es sehr lose gefasst – es musste nicht ausschließlich rund um Widerstand gehen, sondern wir haben es Widerstehen genannt. Es gibt zum Beispiel eine Geschichte, wo jemand der Versuchung widersteht. Auch die Autoren haben das dann ganz weit gefasst.
Aus 170 Arbeiten wurden acht ausgewählt. Wie viele gute Stücke sind auf der Strecke geblieben?
Wir hatten letztlich eine Auswahl von 25 Stücken, über die wir dann heftig diskutiert haben. Ob jetzt zwischen dem 26. und 170. auch noch welche waren? Das ist ja oft auch Tagesform, wenn man sie liest. Also ich möchte nicht behaupten, dass alles andere schlecht war. Aber für das, was uns vorschwebte und uns in diesem Moment interessiert hat, waren es diese 25, über wir dann diskutiert haben.
Ein Tag, acht Stücke. Ist das nicht ein bisschen viel für die Besucher?
Ja, das wird anstrengend, aber wir hoffen auch, dass es eine ganz tolle Veranstaltung wird. Etwas, das ein bisschen Event-Charakter hat. Der Zuschauer geht zwischendurch was essen oder trinken, es gibt auch Pausen. Er muss ja auch immer nur 20 bis 30 Minuten zuschauen pro Stück. Das sind dann szenische Lesungen mit Schauspielern aus unserem Ensemble. Aber auch mit Gästen, sonst wäre das gar nicht zu leisten. Ich denke, dass alles wahnsinnig abwechslungsreich sein wird. Auch die unterschiedlichen Themen und Ansätze. Hier haben wir was Volksstückhaftes, dort so etwas fast wie eine Jelineksche Textfläche, es sind schon sehr unterschiedliche Formen. Dann gibt es acht Regisseure, die sich mit den Texten beschäftigen, also auch unterschiedlich herangehen. Dazu und zwischendurch Gespräche mit den Autoren, mit der Jury. Ich hoffe, dass das auch ein Ansporn ist, Motto: Ich habe den Marathon geschafft, also ein zusätzlicher Anreiz.
Es ist nicht so, dass man sich entscheiden muss zwischen dem einen oder anderen?
Im schlimmsten Fall kann man auch sagen, den nächsten Block schaffe ich nicht, ich muss kurz ausspannen und komme dann für die anderen wieder. Das geht ja auch. Wir haben hin- und herüberlegt. Es sind ja auch unsere ersten Autorentage. Vielleicht werden wir im nächsten Jahr auch irgendwas anders machen. Dieses System probieren wir aber jetzt so aus. Wir hatten die Idee, dass man alles sehen können sollte, und waren uns einfach nicht sicher, ob wir, so wie beim Heidelberger Stückemarkt, die das ja an zwei Tagen machen, dafür die Leute ins Theater kriegen. Wenn wir jetzt merken, das war den Leuten an einem Tag zu anstrengend, vielleicht versuchen wir das dann mit der anderen Variante.
Was für Geschichten werden erzählt?
Wirklich ganz Unterschiedliche. Es gibt Geschichten, die sich eher im privaten Bereich abspielen, die sich dem Widerstehen einer Versuchung widmen, wie Familiengeschichten, wo dunkle Geheimnisse darunter liegen. Es gibt aber auch Stücke, die sind eher witzig: Da nimmt zum Beispiel eine Terrorgruppe Geiseln, weil sie damit Widerstand gegen ein japanisches Großunternehmen beweisen will. Das funktioniert überhaupt nicht und wird zu einem absurden Medienspektakel verheizt. Dann gibt es noch eine schöne Geschichte, die sich so rund um die Berliner Demonstrationen am 1. Mai dreht, die aber eigentlich ein Coming Out und eine Jugendgeschichte von vier jungen Leuten ist, die an diesem Tag eigentlich eher raus wollen aus ihrem Provinzleben. Sie haben sich in die Großstadt begeben, wollen am Widerstand teilnehmen, doch daran zerbricht die Freundschaft dann aber teilweise. Jahre später trifft man sich wieder und resümiert, was das für ein kläglicher Versuch war, und wo alle gelandet sind. Unterschiedliche Geschichten also; auch eine, die sich textflächenmäßig mit unserer Abhängigkeit von neuen Medien beschäftigt: wie viele Freunde man in irgendwelchen Netzwerken hat, und wie sehr man sich darin verfranst, und ob man sich dem überhaupt noch entziehen kann.
Wie muss man sich die Autoren vorstellen: ganz jung, ganz alt, Profis und Laien?
Das war wirklich spannend. Wir haben die Texte ja anonym gelesen und waren dann natürlich extrem neugierig, als wir die acht AutorInnen ausgesucht hatten. Wir fragten uns, ob wir vielleicht einen Schimmelpfennig übersehen haben oder so. Aber das war nicht der Fall, es sind allerdings tatsächlich bekannte Namen dabei. Vier sind bei Verlagen, und da sind Charlotte Roos oder Mario Salazar, die sind auch beim Heidelberger Stückemarkt gewesen oder dieses Jahr eingeladen. Also man fühlte sich dann ein bisschen bestätigt, dass man ein Talent, das andere auch schon entdeckt haben, nicht übersehen hat. Es gibt aber auch wirklich vier Autoren, die bisher noch nicht reüssiert haben. Aber es sind schon alles jüngere Autoren, wobei wir lustigerweise bei dem Stück „verpiss dich gewiss“ einen schon älteren Herrn mit dabei haben. Und das hat uns auch alle total überrascht, das finden wir super, Hartmut Musewald ist auch einer, der kein Internet hat und sagt, das braucht er auch nicht. Er hat ein kräftiges, so richtiges Volksstück geschrieben.
The Winner takes it all?
Irgendwann haben wir „Siegerstück“ gesagt. Aber irgendwie sind die acht schon Siegerstücke, und da haben wir uns schwer getan. Einer hat aber tatsächlich die Chance auf den Gewinn von 5.000 Euro von der Stadt, gefördert von der Sparkasse, und dass sein Werk in der nächsten Spielzeit uraufgeführt wird. Es gibt aber immerhin noch einen Publikumspreis und 1.000 Euro, die die Theaterfreunde zur Verfügung stellen. Und vielleicht ist das ja dann ein anderer, so dass wenigstens zwei ein bisschen was – außer der Chance, sich vorzustellen – mit nach Hause nehmen.
Was war schwieriger: die Stücke zu lesen oder den Tag zu organisieren?
Eine super Frage. Da wir gerade damit beschäftigt sind, den Tag zu organisieren – ich sag nur Besetzungen – würde ich jetzt natürlich behaupten, es ist das Organisieren des Tages. Aber die 170 Stücke lesen, das war schon der Wahnsinn. Weil wir ja auch noch einen Spielplan machen und Stücke betreuen müssen. Also irgendwie macht es keinen Unterschied.
„Stück auf!“ I Sa 14.4., ab 12 Uhr I Schauspiel Essen I 0201 812 22 00
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