Jeder Realismus ist wunderbar und furchtbar zugleich: Die Ausstellung „Lebensecht?“ im Osthaus Museum Hagen beginnt im Foyer mit einem riesigen Baby, noch mit der Nabelschnur, monströs und bemitleidenswert in einem. Alleiniger Gegenstand der Ausstellung ist der Mensch, höchst präzise meist mit Kunststoffen und Farbe wiedergegeben, festgehalten in seiner Intimität oder Öffentlichkeit, mit den Veränderungen des Körpers, die in unserer Hochleistungs- und Optimierungsgesellschaft verdrängt werden, also mit einem oberflächlichen und einem wahren Bild von Schönheit. Die meisten der rund 30 Skulpturen zeigen den Mensch nackt, auch in Paaren von Mann und Frau und Alt und Jung, manchmal ist er nur Büste. Mit seiner Mimik, den Posen, seiner Einzigartigkeit aber auch Abnormität – und in der Ausstellung meist ohne Sockel – fordert er zum Nähertreten auf. Wir sehen die Poren und die Haaransätze, die Rötungen, Falten und das Glänzende der Haut. So gibt es Situationen, in denen die Skulpturen zu atmen scheinen und wir instinktiv mit Empathie reagieren.
Vom Obergeschoss des Neubaus schaut Andy Warhol herab. Aus der Nähe „schrumpft“ er auf ein Normalmaß und wird hinter der Maskerade „menschlich“. Die Strategien des Hyperrealismus ähneln sich, abgesehen vom täuschend Echten: Die Dimensionen sind verändert, Körperpartien sind verzerrt, sie wirken virtuell, die Haut ist alt oder glatt oder die Körper sind deformiert. Jedoch erzählt hier jede Skulptur ihre eigene Geschichte. John de Andrea wendet sich – in seiner Zeit – dem Vietnamkrieg zu. Patricia Piccinini konfrontiert drastisch mit Genmanipulationen. Brian Booth Craig schafft hingegen eine Figur von mythologischer Schönheit. Immer wieder geht es um das Altern und um Armut, soziale Schieflagen, überhaupt eine psychische Zerbrechlichkeit und die Härte des Lebens. Und Maurizio Cattelan demonstriert Dominanz und Unterwerfung mit einem irritierenden Unterton.
Leib und Psyche
In dieser von Tayfun Belgin vorzüglich arrangierten Ausstellung, die eine Kooperation mit dem Institut für Kulturaustausch in Tübingen ist, erhält jede Skulptur ihren Raum, lebt aus sich heraus. In den Kabinetten werden die Anfänge des Hyperrealismus mit Werken von George Segal, Duane Hanson und Robert Graham vorgestellt; John de Andrea und Carole Feuerman treten in den Räumen davor auf. Es fällt auf, dass es gerade US-Amerikaner waren, die diese Kunstrichtung in den 1970er Jahren entwickelt haben. Deutsche Künstler spielen bis heute keine Rolle, aber längst ist der skulpturale Hyperrealismus in Europa angekommen, auch das zeigt die Ausstellung. Kurz beleuchtet wird die Rolle der Pop Art, die den Hyperrealismus in den USA gefördert haben mag. Vertreten ist Mel Ramos mit einem Pin-up, dessen (sexistische) Oberflächlichkeit in Hagen entlarvt wird. Eine dazu antipodische Skulptur ist der verwachsene Leib mit seinem durchschimmernden Fleisch von Berlinde De Bruyckere. Er ist ein wichtiges Beispiel für die Aktualität dieser Ausstellung: Die Künstler hinterfragen unser Menschenbild gerade in Zeiten digitaler Retuschen, der Schönheitsindustrie und ihrer Verdrängungsmechanismen.
Lebensecht? - Hyperrealistische Skulpturen | geschlossen, wieder 1.12. - 31.1. | Osthaus Museum Hagen | 02331 207 31 38
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Über Osthaus hinaus
Anett Frontzek im Osthaus Museum Hagen
Vom Laufen und Stehen
Jan Meyer-Rogge im Osthaus Museum Hagen – kunst & gut 06/24
„Das kann einem einen kalten Schauer bringen“
Direktor Tayfun Belgin über die Gottfried Helnwein-Ausstellung im Osthaus Museum Hagen – Sammlung 04/24
Das beste Licht der Welt
Heinz Mack im Osthaus Museum in Hagen – kunst & gut 07/23
Die anderen Werke
Sammlungspräsentation im Osthaus Museum Hagen – kunst & gut 04/23
„Dimensionen, wie man sie bei uns nicht findet“
Tayfun Belgin über „Labyrinths of Love“ im Osthaus Museum Hagen – Sammlung 10/22
Der Mensch mit der Natur
Karl Ernst Osthaus-Preisträger Sven Kroner in Hagen – kunst & gut 10/22
Splitter der Heimat
Assadour im Osthaus Museum in Hagen
– kunst & gut 04/22
Natur in Unruhe
Mally Khorasantchi im Osthaus Museum Hagen – kunst & gut 03/22
Aus der Stadt Hagen
Ein kulturgeschichtlicher Einblick im Osthaus Museum Hagen
Ping Pong mit der Geste
Zwei „Junge Wilde“ mit Gemeinschaftsarbeiten im Osthaus Museum Hagen – kunst & gut 08/21
Farbenrausch daheim
„Expressionisten. Aus der Sammlung“ – Ausstellung in Hagen – kunst & gut 04/20
„Mangas sind bei der jungen Leserschaft die Zukunft“
Leiter Alain Bieber über „Superheroes“ im NRW-Forum Düsseldorf – Sammlung 11/24
Der Künstler als Vermittler
Frank van Hemert in der Otmar Alt Stiftung in Hamm-Norddinker – kunst & gut 10/24
Gelb mit schwarzem Humor
„Simpsons“-Jubiläumschau in Dortmund – Ruhrkunst 10/24
„Weibliche und globale Perspektiven einbeziehen“
Direktorin Regina Selter über „Tell these people who I am“ im Dortmunder Museum Ostwall – Sammlung 10/24
Die Drei aus Bochum
CityArtists in der Wasserburg Kemnade – Ruhrkunst 09/24
Orte mit Bedeutung
Zur Ruhrtriennale: Berlinde De Bruyckere in Bochum – kunst & gut 09/24
„Jeder Besuch ist maßgeschneidert“
Britta Peters von Urbane Künste Ruhr über die Grand Snail Tour durch das Ruhrgebiet – Sammlung 09/24
Denkinseln im Salzlager
Osteuropäische Utopien in Essen – Ruhrkunst 08/24
Ausgezeichnet auf Papier
Günter Drebusch-Preis 2023 in Witten – Ruhrkunst 08/24
Räume und Zeiten
Eindrucksvoll: Theresa Weber im Kunstmuseum Bochum – kunst & gut 08/24
Roter Teppich für das Kino
Kino- und Filmgeschichte des Ruhrgebiets im Essener Ruhr Museum – Ruhrkunst 08/24
„Auch die Sammler beeinflussen den Künstler“
Kurator Markus Heinzelmann über die Ausstellung zu Gerhard Richter in Düsseldorf – Sammlung 08/24
„Die jüdische Renaissance ist nicht so bekannt“
Museumsleiterin Kathrin Pieren über „Shtetl – Arayn un Aroys“ im Jüdischen Museum in Dorsten – Sammlung 08/24