Surreale Situation im Morgengrauen: Inmitten brutalistischer Betonarchitektur steht ein edler Apfelschimmel, etwas verloren, das einzige Lebewesen weit und breit. Elektronische Geräusche aus dem Off reißen ihn aus seiner konzentrierten Starre. Er trottet würdevoll über einen menschenleeren Platz vor markanter Hochhauskulisse, betritt die Rampe eines Parkhauses und verliert auf dem Weg hinauf dann doch kurz die Fassung: scharrt mit dem Huf heftig am nackten Beton. Ein berührender Moment in Melanie Manchots Schwarz-Weiß-Videowerk „Cornered Star“, 2018, das Pferd und Stadtraum atmosphärisch in Szene setzt.
Die Stadt ist Marl, einst Vorzeige-Retortenstadt der 1960er-Jahre-Nachkriegsmoderne, mittlerweile schon baufällig. Und Manchots Video ist Teil der Ausstellung made in marl des Skulpturenmuseums Glaskasten im Rathausbau. Während außen der Beton wegbröckelt, zeigt das Museum aktuellste Medienkunst, Video-, Klang- und skulpturale Installationen, State of the Art. Die Marler Medienkunstpreise genießen internationales Renommee.
Viele der Künstler, die Museumsdirektor Georg Elben seit seinem Amtsantritt 2011 ausstellte, ließen sich vom fragwürdigen Charme und der Geschichte der Betonstadt zu einem ortsbezogenen Werk inspirieren und übereigneten es dem Museum. So entstand ohne Einkaufsetat eine Sammlung mit Bürgersinn, die Elben nun gebündelt präsentiert, bevor das Rathaus saniert und das Museum verpflanzt wird: 18 Videos, 13 Skulpturen und (Klang-)Installationen sowie drei Foto- und Plakatserien von über 30 Künstler/-innen – ein sehenswertes, total heterogenes Ensemble, das aus unterschiedlichsten Blickwinkeln verblüffende Spotlights auf Aspekte der Stadt setzt, das irritiert, anregt und erinnert.
Im Eingangsbereich, mit original Rathaus-Sitzgruppen gemütlich ausgestattet, stellt der aktuellste Neuzugang des Künstlerduos Fari Schams / Arne Schmitt die Marler Volkshochschule die insel vor, nicht weit von Altmeister Günther Ueckers vernagelten Flachbildschirmen. Für die Videokunst sollte man Zeit investieren. Es lohnt sich, zuzusehen, wie in Manuel Grafs Video die Marler Hochhäuser unter einem Apfelsinenregen ertrinken, Isa Melsheimer ein Wasserballett im Becken vorm Museum aufführt oder Matthias Schamp mit einem Laubbläser eine Feder quer durch die Stadt pustet. Amüsante Unterhaltung garantieren die Science-Fiction-Videoepisoden von Random People & Red Park: Mit Hilfe Marler Bürger wehren sie einen Alien-Angriff ab. Andere Künstler widmen sich dem Skulpturenpark rund ums Museum. Johanna Reich und Marco Lulíc verbauen, betonen und umtanzen die Skulpturen, Lena Henke haucht ihnen mit einer Foto-Lovestory ein geheimes Eigenleben ein. Mit diesem Motiv spielt auch Melanie Manchots „Cornered Star“ als moderne Reminiszenz an traditionelle Reiterstatuen in historischen Stadtzentren.
made in marl | bis 1.3.2020 | Skulpturenmuseum Glaskasten Marl | 02365 99 22 57
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