Das Ruhrgebiet scheint eine besondere Faszination auszulösen. Zwar gehört das kernige „Malochertum aus'm Pott“ in die Kategorie „Nostalgie“ und hat mit der heutigen Realität der Region nur noch wenig zu tun; dennoch finden sich immer wieder TheatermacherInnen, die Lust haben, nach den Besonderheiten des Ruhrgebiets zu forschen und diese Ergebnisse dann in den zerklüfteten Landschaften des „Potts“ zu präsentieren.
Die Berliner Gruppe Rimini Protokoll hat zu diesem Zweck gemeinsam mit Urbane Künste Ruhr ein neuartiges Konzept der Stadtführung entwickelt: Der LKW, der der Gruppe schon vor Jahren als fahrbarer Zuschauerraum für ihr legendäres Stück „Cargo Sofia“ diente, wurde für das Projekt reaktiviert. Eine Seitenwand des LKWs besteht vollständig aus Glas, die Zuschauer sitzen seitlich, so dass die urbane Realität als Bühne erscheint, während sich der Truck durch die Stadt bewegt.
Der LKW ist von April 2016 bis April 2017 in sieben Ruhrgebietsstädten unterwegs, in diesen Tagen in Mülheim. Bochum und Essen stehen noch aus, sie werden im nächsten Jahr Gastgeberinnen sein. „Truck Tracks“ heißt das Projekt deshalb, weil Rimini Protokoll hier als Kuratoren auftreten und KünstlerInnen dazu auffordert, Audio-Tracks für die Fahrten zu entwickeln. Genauer: In jeder der sieben Städte werden jeweils sieben besondere Orte angesteuert, zu denen dann insgesamt 49 KünstlerInnen 49 Tracks gestalteten. Für die Mülheimer Variante hat sich Rimini Protokoll u.a. für den überregional bekannten Autor und Sänger Schorsch Kamerun entschieden, aber auch für unbekanntere Namen, wie Amirhossein Mashaherifar aus Bochum.
Die Fahrt durch Mülheim gestaltet sich zunächst recht unterhaltsam – vor allem wenn einem bewusst wird, wie merkwürdig der Truck von außen aussehen muss, mit den drei braven Reihen von ZuschauerInnen im Innern. Auf den ersten Kilometern der ca. zweistündigen Tour gibt es noch die Hoffnung, eine neue Perspektive auf das wohlbekannte Mülheim an der Ruhr zu bekommen. Alltägliche Geschehnisse wie das Warten an einer Bushaltestelle oder die Vorgänge in einer Autowaschanlage könnten mit der passenden (oder im guten Sinne unpassenden) Audiobegleitung als Komödie oder Tragödie erscheinen, als etwas anderes als das, was sie in Wahrheit sind. Voraussetzung dafür wäre eine hörbare Auseinandersetzung mit der Region und den einzelnen Orten. Unglücklicherweise scheinen die angesteuerten Orte und die produzierten Tracks ziemlich willkürlich zusammengewürfelt zu sein.
Ein Beispiel: Der LKW hält an einer Straße, das Publikum blickt auf einen schmalen, baumbewachsenen Streifen in ihrer Mitte. Ein Ort, den es so in Mülheim, Dortmund und Oberhausen gibt, aber gewiss auch in Berlin und Hamburg. Der Track „Der Tod ist mein Beruf“ erzählt die Geschichte eines Serienmörders im Iran, der seine weiblichen Opfer mit ihren eigenen Kopftüchern ermordete – eine aufwühlende Geschichte. Aber warum wird sie ausgerechnet hier erzählt? Track und Ort stehen nicht einmal in einer losen Beziehung.
Einen der gelungeneren Tracks hat der Regisseur Gerardo Naumann entwickelt. Bei „Die Feuerfrau“ hören wir mit Blick auf die Mülheimer Feuerwehr einer Kinderstimme dabei zu, wie sie Gedanken zum Thema Feuer und Feuerwehr entwickelt. Aber auch hier bleibt die Frage unbeantwortet, wie sich das Verhältnis vom Inhalt des Tracks und eben jenem Ort im Ruhrgebiet gestaltet.
Im Laufe der Fahrt wird zunehmend deutlich, dass es nicht speziell um Mülheim geht, sondern schlicht um Orte, die als Blaupause für alles und nichts herhalten müssen. Einen Großteil des Abends werden wir von einem Ort zum anderen gefahren: Mülheims Straßenlabyrinth. Diese Zeit zwischen den Orten vergeht ohne weitere Vorkommnisse. Als der LKW wieder auf den Parkplatz des Ringlokschuppens zurückkehrt, drängt sich die Frage auf: Wie soll ein Publikum neu auf diese Region blicken, wenn die KünstlerInnen selbst kaum hingeschaut haben?
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