Noch ein Bühnenbild ohne Eigenschaften im Theater der Gezeiten
Foto: Peter Ortmann
„Wir gehören nicht zu den ganz besonders Begünstigten“
30. Juli 2013
Kurz nach dem Sommer kommt mit „Atemzüge eines Sommertags“die neue Inszenierungvon Benno Boudgoustauf die Bühne – Premiere 08/13
Alles begann in einem winzigen Raum hinter einer Kneipe. Dann kam der Umzug in eine alte Tankstelle, in öffentliche Gebäude, heute residiert das Theater der Gezeiten im ehemaligen Pfarrsaal der St. Antoniusgemeinde in Bochum, zwischen wild wuchernden Pflanzen und einer leer stehenden katholischen Kirche, die irgendwann zu einem Altenheim umgebaut werden soll. Dann müsste Theaterchef und Schauspieler Benno Boudgoust wieder umziehen, den schönen Saal mit 80 möglichen Plätzen wieder räumen. Aber erst einmal erzählt er von seinem 18 Jahre jungen Theater und dem neuesten Projekt, Robert Musils 1.000 Seiten-Romanfragment „Mann ohne Eigenschaften“.
trailer: Herr Boudgoust, fast zwei Jahrzehnte Theater der Gezeiten in Bochum – wie viele Umzüge hat die freie Bühne in der Stadt erlebt? Benno Boudgoust: Vier. Quer durch die Stadt.
Wie überlebt man neben einem medial schier übermächtigen Schauspielhaus? Im Grunde nur über Spezialisierungen. Das Theater der Gezeiten hat lange Jahre lang relativ eng mit Studierenden der Theaterwissenschaft zusammengearbeitet. Zum Teil hat sich daraus auch das Ensemble gebildet und das hat dem Theater eine gewisse Stabilität gegeben, denn das gab es vorher so nicht. Inzwischen hat sich das aber wieder geändert.
Ihr nächstes Projekt ist Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“?
Benno Boudgoust
Foto: Peter Ortmann
Benno Boudgoust
hat Theaterwissenschaften, Germanistik und Romanistik in Mainz und Bonn
studiert, arbeitete dann als Schauspieler, Regisseur und Autor an verschiedenen
Theatern. Seit 18 Jahren leitet er das Theater der Gezeiten und ist Dozent an
der Schauspielschule Bochum.
Ja, wobei das so gesagt natürlich nicht ganz stimmt und es wäre wohl auch ein Stück weit vermessen. Ich habe zwar ursprünglich damit angefangen, eine Theaterversion des Romans von Musil herzustellen, mittlerweile ist es aber so, dass ich ein bisschen die Perspektive verändert habe. Mir geht es im Grunde nicht mehr darum, den Roman in eine theatrale Form zu übertragen, sondern mir geht es um Ähnlichkeiten, um Parallelitäten, um Weiterführungen von Themen, die es in Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ gibt, in unsere Jetztzeit. Also im Grunde übertragen wir das, was im Originalroman das österreichisch-ungarische Kaukasien ist, mit seinen Einflussbereichen zum Balkan, praktisch auf den europäischen Vielvölkerstaat, in dem wir derzeit leben. Hintergründig geht es auch darum, die Ereignisse, die den Handlungsstrang des Romans bilden, in ihrer Signifikanz weiterzuführen. Was dort beispielsweise das Gremium war, das sich um das Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph und gleichzeitig um das 25jährige von Friedrich Wilhelm II. kümmern sollte, was wäre das heute, übertragen in demokratische Situationen, die das Europäische Parlament betreffen und was sind letztlich die politischen und auch moralischen und gesellschaftlichen Vorstellungen, unter denen sich der Gedanke von Europa eint. Diese Fragestellungen tauchen ja auch in Diskussionen im EU-Parlament pausenlos auf. Und da ist es eben so, dass Ulrich, die Hauptfigur des Romans, mit seinem Scharfsinn dafür steht, dass es schon damals keine Aktionen mehr gab, ohne eine Gegenreaktion. Das könnte man fast als ein Prinzip der demokratischen Willensbildung ansehen. So stellt sich dann auch die Frage, welche Ideale es überhaupt noch gibt. Im Roman haben auch die damals aufkommenden philosophischen, aber auch politischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts ihre Spuren hinterlassen, die bis heute weiterwirken: die eigentliche Lebensphilosophie und die Vor- oder Nebenläufer von Nietzsche, die beginnende Jugendbewegung, die auch in den Nationalsozialismus trieb.
Aber es geht nicht nur um ein Leben ohne Sinn? Nein. Das ist überhaupt nicht der Punkt. Das ist nicht zu verwechseln mit einem Gedanken an Absurdität oder abgeleitet von einer Definition des Absurden von Camus, Sartre und so weiter. Nein, darum geht es gar nicht. Sondern darum, dass wir hier heute immer weiter in einer Zeit leben, in der sozusagen die Vielfalt unserer pragmatischen Fähigkeiten oder unserer technischen Fähigkeiten, wie die Spezialisierung in verschiedene Bereiche der Technologie, sich nicht mehr zusammenfügen in irgendein humanistisches Ganzes, obwohl wir diesen Anspruch noch immer so erklären.
Formal geht es um das letzte Kapitel? Das ist nur der Ausgangspunkt. „Atemzüge eines Sommertags“ ist zwar das letzte Kapitel des Romans, der zwar irre lang ist, so über 1.200 Seiten, aber trotzdem ein Fragment geblieben ist, an dem der Autor aber bis in seine letzte Lebenssituation immer wieder gefeilt hat, womit er sich immer weiter auseinadergesetzt hat. Eben weil es sich nicht mehr zu etwas fügen wollte, was er selber auch als einen Roman bezeichnet hat. Von dem letzten Kapitel gehen wir aus und „Atemzüge eines Sommertags“ ist auch unser Titel. Aber die vielen Figuren, die es in dem Roman gibt, verstehen wir nicht als eigene Charaktere, sondern eher als Typen, die im Original dann höfische sind oder militärische oder die aus der Diplomatie kommen. Die lassen wir dann auch in einer Art Scharade von Figur zu Figur wechseln. Stilistisch wird es Text geben, aber die Texte werden ergänzt durch Bilder, durch szenische Bilder, durch Bewegungsbilder. Das geht auch in den Bereich des Tanzes, es werden sechs Mitwirkende sein, darunter vier Schauspieler bzw. Schauspielerinnen und noch zwei Tänzer.
Also hat das ganze mehr performativen Charakter? Ja, aber eher als eine Verbindung von Sprechtheater und Bewegungstheater.
Gibt es einen Wunsch an die Kulturpolitik? Ich will es ganz aufrichtig sagen, wir gehören zwar nicht zu den ganz besonders Begünstigten, aber immerhin doch zu den Begünstigten. Aber tatsächlich leben wir immer genau an der Grenze der Existenzfähigkeit. Denn immer dann, und damit schließe ich ein bisschen den Bogen zu der Eingangsfrage nach den vielen Umzügen, wenn irgendeine Erhöhung kommt und seien es die Nebenkosten, dann geraten wir in den roten Bereich und müssen uns wieder nach irgendetwas anderem umsehen. Natürlich wäre es dann schöner, wenn die Situation des „Theaters der Gezeiten“ von politischer Seite ein wenig besser stabilisiert werden könnte.
„Atemzüge eines Sommertags“ | Premiere im September 2013 | Theater der Gezeiten, Bochum | www.theater-der-gezeiten.de
INTERVIEW: PETER ORTMANN
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