Zumindest die Grenzen der akademischen Welt werden im Blue Square geöffnet. So nehmen in den ersten Reihen mehr oder weniger besorgte Bürger Platz. Es geht natürlich um das Thema aller Themen: Die „Flüchtlingskrise“, die für Streit in der EU und der Großen Koalition sorgt.
Eingeladen zur Veranstaltung mit dem Titel „Bedrohungsszenario Flüchtlingskrise“ (am 10.2.) hatten die Fakultäten der Sozialwissenschaften, Jura und Wirtschaftswissenschaften der Ruhr-Uni Bochum. Den einleitenden Vortrag übernimmt die Soziologin Eva Gerharz, die an der RUB zum Thema Soziologie der Entwicklung und Internationalisierung lehrt und forscht. Doch die schaut nicht gerade begeistert aus, als spätestens in der Diskussionsrunde Ängste und Befürchtungen bei so manchem Besucher hochkommen: Nehmen „die“ uns die Arbeit weg? Wo sollen „die“ eigentlich untergebracht werden? Und überhaupt: ist Multikulti nicht schon längst gescheitert?
In ihrer knappen und bündigen Einleitung hatte Eva Gerharz zuvor gefragt, inwiefern man überhaupt von einer Flüchtlingskrise sprechen könne. Diese sei, was die Asylpolitik Deutschlands betrifft, in erster Linie von politischer Unfähigkeit, Verwaltungsproblemen und nicht zuletzt einem Bedrohungsszenario geprägt. Bedingt seien die Flüchtlingsströme neben den aktuellen Krisenregionen durch eine „allgemeine Unzufriedenheit mit den Lebenszuständen“, so Gerharz. „Migration ist der Versuch, das Leben in die eigene Hand zu nehmen und daran etwas zu ändern.“ Historisch und soziologisch sei das schon selbstverständlich geworden: Gerharz spricht von „transnationalen sozialen Räumen“ und „hybriden Identitäten“. Trotzdem rufen diese Migrations- und Fluchtströme schon seit Wochen eine Stimmung, ein Bedrohungsszenario hervor, dass an die frühen 1990er erinnert, als Politiker und Medien eine „Das-Boot-ist-voll“-Kampagne initiierten. „Die Situation ist noch schlimmer als damals“, so Gerharz über das derzeitige Klima. „Der Rechtspopulismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“.
Das ist vereinzelt auch in der angeheizten Diskussionsrunde zu spüren. Ein besorgter Bürger rekonstruiert das Scheitern der Multikulti-Gesellschaft und verteidigt die nationale Identität. Ein noch Besorgterer fordert, auch mit den Besorgten von Pegida zu reden. Der Besorgteste an diesem Abend meckert über „Kopftuchtürkinnen“ und „Gutmenschen-Zeitungen wie die Zeit“. Andere ZuhörerInnen antworten bedacht und nüchtern. Argumente gegen Befürchtungen. „Wovor haben Sie Angst?“, fragt ein Besucher zurück. „Dass unsere Gesellschaft zusammen bricht. Dass die Arbeitslosigkeit zunimmt...“. Die Befürchtungen und Ängste sind nicht unberechtigt. Mit der Ringvorlesung bemüht man sich, Aufklärung zu betreiben, ExpertInnen zu Wort kommen zu lassen. Am Ende spiegelt die Veranstaltung auch die Stimmung in der Gesellschaft wieder: Gegen soziale Ängste helfen Argumente nur bedingt.
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