Weihnachten 1989. Das kommunistische Regime in Rumänien gerät ins Wanken. In Sibiu/Hermannstadt in Siebenbürgen fallen über 90 tödliche Schüsse. Ceauşescu flieht, wird gefangen und exekutiert. Für die Rumäniendeutschen winkt die Verlockung der Freiheit – Deutschland. Auch Hans treibt es auf die Straßen in Sibiu/Hermannstadt. Für ihn beginnt eine Reise in eine neue Realität – aber diese Reise führt ihn weiter weg von Zuhause, als er es sich je hätte vorstellen können – und zugleich doch wieder zurück dorthin, wo er herkommt. Lothar Kittstein hat mit „Die Geister von Amnaş“ ein Stück geschrieben, das die Fragen nach Heimat, Gemeinschaft und den eigenen Lebensentwürfen aufwirft. Regisseur Bernhard Mikeska stattet jeden Zuschauer mit Kopfhörern aus und lässt ihn die Geschichte auf eine eigene, intime Weise erleben. So wird das Theater zum Breitwandkino, zum Kino im Kopf.
trailer: Warum müssen Zuschauer in einem Theater Kopfhörer aufhaben?
Bernhard Mikeska: Eigentlich möchte ich die Zuschauer die Kopfhörer vergessen lassen. Sie sollen nicht als technisches Vehikel wahrgenommen werden. Aber mit denen kann man viel leichter in die Geschichte eintauchen, weil der Ton direkt, unmittelbar ins Ohr geht und ich diesen leichter manipulieren kann. Ich kann mit Stereoeffekten arbeiten, ich kann eine Raumsituation nur auf der Audioebene herstellen und damit Realität und Fiktion sehr stark auf der Tonebene bespielen und eine Art von Filmton erzeugen. Ludwig Feuerbach hat gesagt, das Ohr ist ein Organ der Angst, es hat uns früher nachts vor den Tieren beschützt. Die Augen waren zu, aber das Ohr hat gehört, ob der Säbelzahntiger vor der Höhle steht und dann sind wir aufgewacht. Geräusche gehen also direkt ins Unterbewusste, werden anders verarbeitet als visuelle Reize. Der Hörsinn wird im Theater oft unterschätzt.
Und wenn der Zuschauer den Kopfhörer einfach abnehmen würde?
Man hört natürlich auch ohne Kopfhörer etwas, die Schauspieler sind ja nicht so weit entfernt. Aber über den Kopfhörer kommen nicht nur die Stimmen der Schauspieler, sondern man hört eine ganze Soundwelt. Der Kopfhörer ist wie eine 3D-Brille im Kino, man sieht einfach mehr damit, man sieht anders und man ist näher dran. Die Hoffnung ist, wenn man das einmal erfahren hat und setzt dann die Hörer ab, würde man feststellen, dass doch irgendwie eine Dimension fehlt. Dass die Zuschauer damit experimentieren, kommt in den Arbeiten, die ich bis jetzt gemacht habe, regelmäßig vor.
Was sind die Geister von Amnaş?
Uns haben diese Geisterdörfer in Sibiu in Siebenbürgen fasziniert. Die sind von den Rumäniendeutschen spätestens 1989 komplett verlassen worden. Wir sind dorthin gefahren und haben uns auch dieses Amnaş angesehen. Die Dörfer haben etwas geisterhaftes, als könnten auch die Geister der Vergangenheit in den verlassenen Häusern spuken. Es ist so als würde man in Wohnungen reingehen, wo die Leute Hals über Kopf geflüchtet sind, und das Leben ist so stehen geblieben.
"Das Ohr ist ein Organ der Angst, es hat uns früher nachts vor den Tieren beschützt. Die Augen waren zu, aber das Ohr hat gehört."
Und die Geschichte?
Es geht darum, im Moment eines Todes eine Vorstellung davon zu haben, wie das Leben vielleicht hätte auch sein können, wenn man ein anderes Leben hätte führen können, aber dann doch zurückkehrt zum eigenen Ich und feststellt, „nein, es war gut so“, um dann sterben zu können. Im Stück ist das Hans, dem in den Kämpfen 1989 ins Herz geschossen wird. Er wird ins Krankenhaus gebracht und stirbt da. Und im Moment seines Todes fängt er an zu träumen, wie sein Leben hätte weitergehen können, wenn er überleben würde. Er träumt eigentlich gegen seinen eigenen Tod an, er träumt, dass er lebt.
Die Handlung könnte im Prinzip also an vielen Orten stattfinden.
Es hat insofern mit Rumänien oder speziell mit Siebenbürgen zu tun, weil da die Frage von Heimat für die Deutschen, deren Vorfahren vor 800 Jahren dorthin gekommen sind, eine große Bedeutung hat. Es geht auch um Heimat und um das Gefühl, das man hat, wenn man nach Hause kommt und die vertraute Landschaft sieht. Je älter man wird, desto stärker soll das werden. Diese Faszination macht sich an der Beziehung von Siebenbürgen zu Deutschland anders fest, als wenn ich es woanders verorten würde.
Und wie bringt man Geister nun auf die Bühne?
Die Geister sind erst mal ganz real da, denn es sind ja die Schauspieler aus Fleisch und Blut. Man kann sie sich auch vorstellen. Vielleicht sind das gar keine Geister und die Geschichte ist wirklich passiert. Es gibt Irritationen, es gibt eine Art von Traumlogik, dass Sätze, die eine Figur gesagt hat, auch eine andere Figur sagt und das verwundert den Zuschauer. Dazu spielen die Schauspieler noch absichtlich Doppelrollen. Dann sind da geisterhafte Räume, die komplett leergeräumt sind. Man sieht, wo die Möbel standen, man sieht, wo das Bild an der Wand hängt, man sieht, wo die Leute auf dem Fußboden oft den gleichen Weg gegangen sind. Menschen verschwinden in einer Mauer und tauchen woanders wieder auf. Die Geschichte ist nicht in sich logisch oder das, was ich wahrnehme, ist nicht logisch. Das hat etwas unsichtbar Geisterhaftes.
„Die Geister von Amnaş“ von Lothar Kittstein, Regie: Bernhard Mikeska
Theater Oberhausen (Malersaal)
Fr 8.4. 19.30 Uhr (Premiere)
Weitere Vorstellungen: Fr 15.4., Do 28.4., Di 3.5. je 19.30 Uhr
0208 857 81 84
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